Schnell musste es gehen und möglichst unbürokratisch: Mit Verordnungen regeln die Regierung in Bund und Ländern seit Monaten, wie Deutschland durch die Corona-Krise manövrieren soll. Doch inzwischen wächst der Unmut in den Parlamenten über diese Form der Politik. Unter anderem die Grünen, aber auch die FDP dringen massiv darauf, die Abgeordneten wieder stärker an Entscheidungen zu beteiligen. Es brauche jetzt „mehr öffentliche Debatte in den Parlamenten im Bund und in den Ländern“, fordert die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt im Gespräch mit unserer Redaktion. Zu lange schon werde über die richtigen Maßnahmen „vor allem hinter verschlossenen Türen verhandelt“. „Beratung, Abwägung, Entscheidung und Kontrolle gehören gerade in Krisenzeiten ins Parlament“, betont die Grünen-Politikerin.
Auch angesichts einer spürbar wachsenden Unsicherheit in der Bevölkerung über den Corona-Kurs fordert sie ein Umdenken. „Vertrauen ist in dieser Phase der Corona-Pandemie so wichtig wie Händewaschen. Vom Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Schutzmaßnahmen hängt ab, ob sie akzeptiert und umgesetzt werden“, sagt die Fraktionsvorsitzende.
Spahn will seine Machtbefugnisse ausbauen
Zu den Prinzipien der deutschen Demokratie gehört die Gewaltenteilung. Zahlreiche Corona-Maßnahmen wurden jedoch von der Bundesregierung entschieden. Einige, etwa neue Maßnahmen beim Elterngeld, zogen Gesetze nach sich, die das Parlament praktisch nur noch durchwinkte. Darüber hinaus bekamen Ressortchefs weitreichende Befugnisse erteilt. Gesundheitsminister Jens Spahn beispielsweise kann über das neue Infektionsschutzgesetz und sogenannte Rechtsverordnungen in zahlreiche Gesetze eingreifen. Der CDU-Politiker hat sich so an seine neuen Machtbefugnisse gewöhnt, dass er von einigen davon nicht mehr lassen will. Man prüfe deren „Verstetigung“, sagte eine Sprecherin, wollte aber keine Details nennen.
Doch auch aus der Union hatte es Kritik gegeben: Unionsfraktionsvize Carsten Linnemann sprach von einer „beunruhigenden Entwicklung“. Sein Amtskollege Thorsten Frei kündigt für nächste Woche eine Parlamentsdebatte über die aktuellen Corona-Maßnahmen an. Der CDU-Politiker schließt nicht aus, dass bereits erlassene Rechtsverordnungen vom Parlament geändert oder aufgehoben werden. Und doch betont Frei auch, wie wichtig es sei, dass zügig gehandelt werden könne. „Deshalb ist es gut und richtig, dass es das Instrument von Verordnungen gibt, um Detailfragen zu klären“, sagt er. „Aber klar ist auch: Der Ort, an dem die rechtlichen Grundlagen getroffen werden, ist und bleibt das Parlament.“
In Bayerns Landtag herrscht Unmut
Auch in München diskutiert der Landtag über die politischen Nebenwirkungen der Pandemie. Ministerpräsident Markus Söder mahnt einerseits einen großen Zusammenhalt der demokratischen Parteien an, plädiert andererseits auch dafür, dass manche Entscheidungen im Corona-Kampf schneller erfolgen müssten. Unmut herrscht im Landtag. Ein Entwurf der Grünen für ein eigenes bayerisches Infektionsschutzgesetz wird von den Regierungs- und den anderen Oppositionsfraktionen als verfassungswidrig abgelehnt, weil die Gesetzgebungskompetenz alleine beim Bund liegt. Bereits im Frühsommer scheiterte die FDP mit dem Vorschlag, Verordnungen der Staatsregierung an die nachträgliche Zustimmung des Landtags zu knüpfen.
Überraschend schaltete sich am Montagabend auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble in die Debatte ein. Falls seine Vermittlung gewünscht werde, stehe er bereit. Die öffentliche Debatte zeige, „dass der Bundestag seine Rolle als Gesetzgeber und öffentliches Forum deutlicher machen muss, um den Eindruck zu vermeiden, Pandemiebekämpfung sei ausschließlich Sache von Exekutive und Judikative“, mahnte der CDU-Politiker in einem Schreiben an die Fraktionen, das unserer Redaktion vorlag. Gleichzeitig verschicke er ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages. Darin sind auf zwei Seiten „empfehlenswerte Maßnahmen zur Stärkung des Bundestages gegenüber der Exekutive bei der Bewältigung der Corona-Pandemie“ aufgelistet.
Die Gutachter äußern Bedenken
Das Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes geht unter anderem auf die heikle Frage ein, ob die erheblichen Machtbefugnisse für Bundesgesundheitsminister Jens Spahn zulässig sind. Dem CDU-Politiker steht über das Infektionsschutzgesetz das Recht zu, per Rechtsverordnungen massiv in bestehende Gesetz eingreifen zu dürfen. Davon betroffen ist beispielsweise das Grundrecht auf die Unverletzlichkeit der Wohnung. Die Gutachter äußern Bedenken, ob „die äußerst intensiven und breit wirksamen Grundrechtseingriffe im Rahmen der Corona-Pandemie“ auf eine bloße Generalklausel gestürzt werden dürfen, wie es derzeit der Fall ist. Sie verweisen darauf, dass das Rechtsstaats- sowie das Demokratieprinzip den parlamentarischen Gesetzgeber (also den Bundestag) dazu verpflichten, „wesentliche Entscheidungen selbst zu treffen und nicht der Verwaltung zu überlassen“.
Um der Regierung nicht zu viele Machtbefugnisse zu überlassen, empfehlen die Gutachter den Abgeordneten der Fraktionen, „konkrete Ermächtigungsgrundlagen“ zu beschließen. Mit anderen Worten: Minister wie Jens Spahn sollen für ihr Handeln genaue Leitplanken bekommen. Auch eine Befristung der Maßnahmen ist nach Auffassung der Experten sinnvoll. Sprengstoff hat zudem ein weiterer Satz in dem Gutachten, drückt er doch einiges Misstrauen gegenüber dem Regierungshandeln aus: „Es empfiehlt sich, eine Pflicht zur Unterrichtung durch die Bundesregierung über die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie einzuführen.“
Shopping trotz Corona: Merkel im KaDeWe
Derweil treibt die außerparlamentarische Debatte über die richtigen Corona-Maßnahmen seltsame Blüten und hat nun auch das Privatleben der Regierungschefin erfasst. Kanzlerin Angela Merkel hatte sich am Wochenende in einer Videobotschaft mit der Mahnung an das Volk gewandt, angesichts steigender Infektionszahlen möglichst Zuhause zu bleiben. Fragen eines Reporters der Bild-Zeitung in der Regierungspressekonferenz am Montag legen jedoch nahe, dass Merkel nach der Aufzeichnung des Podcasts am Freitagnachmittag noch im Kaufhaus des Westens (KaDeWe) shoppen ging. Sie sei dort mit Einkaufstüten gesichtet worden, hieß es. Regierungssprecher Steffen Seibert nahm dazu keine Stellung - und in der Tat gibt es gerade wohl wichtigere Themen als die Einkaufsgewohnheiten der Kanzlerin.
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