Am Tag nach der Wahl, nach den düsteren Ergebnissen für die meisten alteingesessenen Parteien, scheint in der sächsischen Landeshauptstadt Dresden die Sonne. Zwei Touristen aus Ungarn stehen am Vormittag vor dem Landtag unweit der Elbe und schießen ein Selfie. Von der Wahl, sagen sie, hätten sie zwar etwas mitbekommen, die Ergebnisse seien jedoch an ihnen vorbeigegangen. Etwa eine halbe Stunde später treten im Landtag die Personen vor, an denen die Ergebnisse nicht vorbeigegangen sind – ganz im Gegenteil. Das, was da am Sonntag passiert ist, wird sie noch lange beschäftigen.
Jeweils ein Sprecher oder eine Sprecherin der im sächsischen Landtag vertretenen Parteien stellen sich am Tag nach der Wahl, nach dem starken Abschneiden der AfD und des Bündnisses Sahra Wagenknecht, dieser Zeitenwende also, den Fragen von Pressevertretern. Sie alle haben müde Augen – und sie eint die Ratlosigkeit über die künftige Regierung. Im Raum steht am Montag eine Frage: Wer koaliert denn jetzt mit wem?
Kompliziertes Koalitionspuzzle nach Wahlen in Sachsen und Thüringen
Diese Frage zu beantworten, wird schwer. Das Koalitionspuzzle, das da auf dem Tisch liegt, ist kompliziert, die einzelnen Teile wollen nicht so recht zusammenpassen. Das gilt in Sachsen genauso wie in Thüringen. In den beiden ostdeutschen Bundesländern ist seit Sonntag nichts mehr, wie es war. Im Kern: Die Landtagswahlen waren hier wie da eine Absage an die Ampel. Die AfD und das Bündnis Sahra Wagenknecht hingegen fuhren große Erfolge ein – und die CDU muss jetzt schauen, wie sie das alles hinbiegen kann. Trotz Brandmauer. Trotz Unvereinbarkeitsbeschluss. So weit, so kompliziert. Koalitionschaos. Und im Zentrum steht Sahra Wagenknecht. Die Frau, von deren neu gegründetem Bündnis jetzt so viel abhängt.
Ortswechsel, Berlin. Die Chefin muss warten. Drei, vier Minuten steht Sahra Wagenknecht allein vor einem Saal im Haus der Bundespressekonferenz, um ihre Wahlsieger aus Sachsen und Thüringen in Empfang zu nehmen. Umringt ist sie an diesem Montagvormittag von Fotografen und Kameraleuten, die jede Regung auf ihrem Gesicht, das Mienenspiel festhalten. Wagenknecht hat ein zartes Lächeln angeknipst, es ist ihr Schutzschild. Am Abend zuvor hat das nach ihr benannte Bündnis das politische System der Bundesrepublik verändert. Eigentlich ist es die Strahlkraft dieser nach außen diszipliniert-distanzierenden Politikerin gewesen, die diese Zäsur herbeigeführt hat.
Das BSW ist komplett auf seine Führungsfigur Sahra Wagenknecht zugeschnitten
Keine andere Partei in Deutschland ist derart auf ihre Führungsfigur zugeschnitten wie das BSW. Wagenknecht hat in ihrer seit über drei Jahrzehnten währenden politischen Karriere die Politik vom Rand bespielt, von außen System und Zustände analysiert und kritisiert. Die wortmächtige Opposition war ihr Geschäft, der Auftritt bei Lanz, Illner, Maischberger und Co. Das hat sich am Sonntag geändert. Wagenknecht hat über Nacht die Hand an der Macht. „Wir sind zu einem Machtfaktor in Deutschland geworden“, sagt sie dann auch selbstbewusst bei der Pressekonferenz mit den beiden Spitzenkandidatinnen aus Thüringen und Sachsen. Nur um im nächsten Moment nachzuschieben: „Die Menschen setzen große Hoffnungen in uns, sie setzen auch große Erwartungen in uns.“
Die Wahlergebnisse in den zwei Bundesländern im Osten sind so kompliziert, dass ohne das BSW nichts oder zumindest kaum etwas geht – wenn die AfD von der Macht ferngehalten und Minderheitsregierungen vermieden werden sollen. Wagenknecht steht in der Pflicht, damit Sachsen und Thüringen nicht unregierbar werden. Für die 55-Jährige ist das eine neue Situation und nicht ohne Risiko. Normalerweise bevorzugen neue Partien den bequemen Platz in der Opposition, um sich zu etablieren. Von dort lassen sich Forderungen nach der eigenen reinen Lehre formulieren und die Regierenden lautstark attackieren. Um die schnöde Frage nach Geld, Personal und Umsetzbarkeit muss sich die Regierung kümmern. In dieser Zeit werden die Parteistrukturen aufgebaut, Personal geschult und die eigene politische Marke geprägt.
Das kleine Einmaleins war nie Sache von Sahra Wagenknecht
Diese Zeit hat Wagenknecht nicht. Neun Monate nach der Gründung wartet die Last der Verantwortung, und die kann drückend sein. Sie lastet vor allem auf den Schultern der beiden Spitzenkandidatinnen Katja Wolf (Thüringen) und Sabine Zimmermann (Sachsen). Sie werden sich darum kümmern müssen, wie freie Lehrerstellen besetzt werden, damit nicht so viel Unterricht ausfällt. Wie die Polizei mehr Bewerber findet, damit die Straßen sicherer werden. Wie Krankenhäuser am Leben gehalten werden können, die zu wenig Geld und zu wenig Personal haben.
Wolf und Zimmermann sind Profis, die wie Wagenknecht seit Jahrzehnten in der Politik sind. Gleichwohl haben sie noch nie ein Ministerium geführt. Schon in einigen Wochen könnte es sein, dass sie in Erfurt und Dresden genau das tun müssen, um sich um das zu kümmern, was die „wirklichen Probleme der Menschen“ genannt wird. Dieses kleine Einmaleins der Politik ist schwierig, denn Geld und Personal kann keiner backen. Das kleine Einmaleins der Politik war aber nie die Sache von Sahra Wagenknecht. Ihr ging es um die großen Fragen, die hohe Luft. In der Vergangenheit war das zum Beispiel die Überwindung des Kapitalismus, heute ist es die Frage nach Krieg und Frieden. „Fast die Hälfte der Menschen hat Angst, in einen großen Krieg hineingezogen zu werden“, mahnt Wagenknecht. Ihre Forderung: ein Ende der Waffenlieferungen an die Ukraine, diplomatische Anstrengungen für Friedensverhandlungen, keine US-Mittelstreckenraketen in Deutschland.
Putin-Versteherei geht gegen die DNA der CDU
Im Osten sind diese Positionen populärer als im Westen. Und Wagenknecht besteht darauf, dass sich die Landesregierungen dafür einsetzen, obwohl es sich um Aufgaben der Bundespolitik handelt. „Wir erwarten von einem Ministerpräsidenten, dass er das öffentlich zum Ausdruck bringt.“
Davon angesprochen fühlen dürfen sich die zwei Herren Michael Kretschmer und Mario Voigt, ihres Zeichens CDU-Vorsitzende in Sachsen und Thüringen. Kretschmer ist sächsischer Ministerpräsident und will das bleiben, Voigt strebt nach der Macht in Thüringen. Für ihre Partei, die CDU, ist das Beharren Wagenknechts eine giftige Pille. Anti-Amerikanismus und Putin-Versteherei gehen gegen die christsoziale DNA – eigentlich. Denn Kretschmer wirbt seit langem dafür, weniger Waffen an die Ukraine zu liefern und auf mittlere Sicht wieder Gas in Russland zu kaufen. Voigt hat im Wahlkampf zumindest erklärt, dass er sich größere diplomatische Offensiven wünsche. Wagenknecht ist eher ein Problem für CDU-Chef Friedrich Merz, der in diesen Fragen diametral zu ihr steht. „Das ist eine Kaderpartei in einer Person, die sich in den Wahlkämpfen zur Weltpolitik geäußert hat. Das ist eine Art black box oder red box, wenn sie so wollen“, sagt er abfällig in der Wahlnachlese im Adenauer-Haus. Doch ohne das BSW ist der Weg für Kretschmer und Voigt verstellt.
Der Koalition aus CDU, BSW und SPD fehlt eine Stimme
Zur giftigen Pille kommt eine zweite hinzu. In Thüringen kann eine stabile Regierung ohne die AfD nur mit dem BSW und der Linken gebildet werden. Der Koalition aus CDU, BSW und SPD fehlt eine Stimme im Landtag zur absoluten Mehrheit. Dagegen steht aber der Unvereinbarkeitsbeschluss der Union für Zusammenarbeit und Koalieren mit der Linken. „Der Beschluss gilt“, stellt Merz klar und sagt nach mehreren Nachfragen der Journalisten, dass man die nächsten Wochen abwarten müsse. Die Verhältnisse im Osten nagen an den Grundüberzeugungen der sehr westdeutschen CDU.
Treppenwitz dieser Wahl: Ausgerechnet die Thüringer Linke müsste mit der Partei zusammengehen, die sich von ihr abgespalten hat und ihr Sargnagel zu werden droht. Und Wagenknecht? Will bei den anstehenden Gesprächen in Erfurt und Dresden die großen Linien festzurren, ansonsten aber nicht mit am Tisch sitzen. Die Details sollen die Landesverbände besprechen. Wagenknecht sitzt damit so halb am Tisch der Macht. So nah war sie ihr noch nie. Das Leben der Menschen müsse sich rasch verbessern, sagt sie. In der Praxis abliefern musste die scharfe Analytikerin aber bisher nicht. Ihre Sache ist der Diskurs über die großen Linien, Krieg und Frieden. Wenn es aber bei Lehrern, Polizisten und Krankenhäusern nicht reicht, wird das kleine Einmaleins plötzlich zu ihrem Problem.
Zurück im sächsischen Landtag in Dresden. Da, wo sie sich jetzt überlegen müssen, wie es weitergeht. Jan Zwerg, Generalsekretär der sächsischen AfD, sagt, man schließe eine Koalition mit der CDU nicht aus, da man inhaltlich nicht so weit auseinander liege. „Die Koalitionsbildung wird sicherlich nicht einfach sein. Selbst die Grünen könnten noch eine Rolle spielen“, sagt Zwerg. Schnell rudert er dann jedoch zurück, sagt, es sei besser für das Land, wenn „die Grünen nicht dabei sind“. Prinzipiell, das betont der AfD-Generalsekretär immer wieder, sei man offen für jegliche Form des Mitwirkens, egal ob in der Regierung oder in der Opposition.
CDU-Mann Dierks schließt eine Zusammenarbeit mit der AfD aus
Der sächsische CDU-Generalsekretär Alexander Dierks gibt wenige Minuten danach strengere Töne von sich. Man schließe eine Zusammenarbeit mit der AfD aus, wolle „eine stabile Regierung für Sachsen bilden“. Ob er die AfD als bürgerliche Kraft bewerte? „Nein.“ Was er persönlich vom Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) halte? „Wir haben viel gemeinsam diskutiert und werden uns die kommenden Tage zusammensetzen.“ Es wirkt wie ein kleiner Schritt in Richtung BSW. Ein Schritt, der kaum vermeidbar sein wird.
Auftritt BSW. Jörg Scheibe und Lutz Richter kommen lächelnd in den Saal. Das Ergebnis sei „eine ziemliche Klatsche für Berlin“, betont Landesvorsitzender Scheibe. Auf die Frage, was das BSW überhaupt umsetzen wolle, folgt von Richter und Scheibe nur eine schmale Antwort: „Bürokratieabbau und Friedensproblematik“, das wolle man angehen.
Wagenknecht nimmt die russlandfreundlichen Wähler im Osten mit
Auf Dresdens Straßen hat sich das, wofür das BSW steht, noch nicht so recht herumgesprochen. Claudia Greifenhahn betreibt einen Laden und ein Café in der Dresdner Innenstadt. Den Wahlabend hat sie noch nicht verdaut. „Auch, wenn es absehbar war, hat es mich getroffen“, sagt sie. „Ich vermute, egal, ob ich das jetzt gut oder blöd finde, dass kein Weg an einer Koalition mit dem BSW vorbeigeht“, sagt die 57-Jährige. Sahra Wagenknecht habe viele Wählerinnen und Wähler „von den Linken abgegriffen“. Wagenknecht sei der Leuchtturm der Partei und jemand, „der die russlandfreundlichen Wähler im Osten mitnimmt“. Und davon gebe es viele.
Ähnlich sehen das Andreas und Markus. Sie sitzen auf der Treppe vor einem Bürokomplex, rauchen und diskutieren über die Wahl am Vorabend. Andreas erzählt, er habe als Wahlhelfer gearbeitet. „Als ich die Ergebnisse gesehen habe, musste ich fast kotzen“, sagt er und zieht an seiner Zigarette. Wie es jetzt in Sachsen weitergehen soll? „Keine Ahnung“, sagt Markus, „die Koalitionsbildung wird sicherlich schwierig werden.“
Interesssant wird sein, wie stark sich BSW verbiegen lässt, also von den eigenen Grundsätzen abweicht, um mitreden zu können.
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