Startseite
Icon Pfeil nach unten
Politik
Icon Pfeil nach unten

"Erinnerungen": Der etwas andere Wolfgang Schäuble

Memoiren

Der etwas andere Schäuble

    • |
    Der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) vor seinem Büro im Deutschen Bundestag.
    Der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) vor seinem Büro im Deutschen Bundestag. Foto: Bernd von Jutrczenka, dpa (Archivbild)

    Wie die Zeiten sich ändern, haben wenige Menschen in Deutschland so hautnah miterlebt wie Wolfgang Schäuble. Als der junge Abgeordnete aus dem Badischen 1972 zum ersten Mal in den Bundestag einzieht, sitzt in der Unionsfraktion ein paar Plätze weiter Ludwig Erhard, der Vater des Wirtschaftswunders – ein Mann, der noch im Kaiserreich aufgewachsen ist. Als Schäuble im September 2021 zum letzten Mal wiedergewählt wird, gehören dem Parlament schon etliche Abgeordnete an, die erst nach dem Fall der Mauer geboren wurden. „Viele Kollegen“, denkt er sich da, „könnten nicht mehr nur meine Kinder, sondern längst meine Enkel sein.“

    Die Memoiren von Wolfgang Schäuble wurden erst im Dezember fertig

    Am 26. Dezember ist Schäuble im Alter von 81 Jahren gestorben. Keine zwei Wochen zuvor erst hatte er die Arbeit an seinen Memoiren abgeschlossen, die an diesem Montag posthum erscheinen und deren interessantester Aspekt nicht jene kurze, schon vorab bekannt gewordene Passage ist, nach der Edmund Stoiber ihn auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise aufgefordert hat, die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel zu stürzen. Das Buch, gut 600 Seiten stark, zeigt einen Schäuble, der offenbar bei Weitem nicht der stramme Konservative war, für den vor allem seine politischen Gegner ihn gerne gehalten haben. 

    Willy Brandts Ostpolitik etwa, von den Unionsparteien lange als eine Art Vaterlandsverrat bekämpft, fand er als junger Mann schon „visionär“, während Konrad Adenauer ihm immer fremder geworden sei. Helmut Schmidts humanistische Bildung, gesteht Schäuble, habe ihn ebenso fasziniert wie Joschka Fischers politisches Talent. In mancherlei Hinsicht sei ihm das grüne Milieu sogar näher gewesen als die Klientel der FDP – und das nicht erst, als in seinem Heimatort Gengenbach ein CDU-Mann mit den Stimmen der Grünen zum Bürgermeister gewählt wurde. 

    Wolfgang Schäuble, ein verkappter Schwarz-Grüner? Nach dem Scheitern der Gespräche über ein Jamaika-Bündnis mit Liberalen und Grünen 2017 warnt er Angela Merkel davor, wieder die SPD ins Boot zu holen. „Stattdessen sollte sie auch ohne eine Koalition die Kanzlerwahl riskieren.“ Spätestens im dritten Wahlgang sei ihr eine klare relative Mehrheit sicher, argumentiert Schäuble. Und wenn der Bundespräsident sie zur Kanzlerin ernennen würde, woran kein Zweifel bestanden hätte, wäre ihre Stellung nach dem Grundgesetz so stark, dass sie damit gut hätte regieren können. Deutlicher hat bisher kein Spitzenpolitiker für eine Minderheitsregierung in Deutschland plädiert, die sich auf wechselnde Mehrheiten stützt. 

    Mit Merkels Führungsstil haderte Schäuble immer wieder

    Mit Angela Merkel, die seinen Rat ausschlägt und sich für eine Neuauflage der Großen Koalition entscheidet, verband Schäuble bis zum Schluss ein ambivalentes Verhältnis. „Über lange Zeit hat sie unser Land gut geführt“, räumt er ein. Ihr abwartender Führungsstil mit dem weitgehenden Verzicht auf inhaltliche Auseinandersetzungen aber habe seine Loyalität immer wieder strapaziert. Als er in den Strudel der CDU-Spendenaffäre gerät und als Partei- und Fraktionschef zurücktreten muss, habe sie die Lage allerdings viel früher erkannt als er selbst. So eng wie er mit Helmut Kohl verwoben war, sei sein Sturz unausweichlich gewesen. Das Ergebnis ist bekannt: Merkel wurde Parteichefin, fünf Jahre später Kanzlerin – und Schäuble erst ihr Innen- und dann ihr Finanzminister. Umso mehr enttäuschte ihn zuletzt die Art, wie sie nun agiert: Dass sie nach ihrem Rückzug aus der Politik so wenig Verbundenheit mit ihrer Partei zeige und demonstrativ sogar das Gegenteil vermittle, habe ihn irritiert. „Dass sie dabei sogar treue politische Gefährten meidet, tut fast schon weh.“

    Trotzdem ist das Buch keine Abrechnung mit Angela Merkel. Im Gegenteil. Ihr alleine vertraut Schäuble schon 2006 an, dass die Ärzte bei ihm Krebs diagnostiziert hatten. Mit ihr geht er 2012 kurzentschlossen ins Kino, um sich den Film „Ziemlich beste Freunde“ anzusehen, eine Tragikomödie um einen Querschnittsgelähmten. Ihr attestiert er, als Generalsekretärin „ein Glücksfall“ gewesen zu sein. „Ich wusste, dass sie klug, umsichtig und ehrgeizig genug war, ihren eigenen Weg zu gehen.“ 

    Der damalige CDU-Vorsitzende Wolfgang Schäuble gratuliert  der soeben zur Generalsekretärin gewählten Angela Merkel.
    Der damalige CDU-Vorsitzende Wolfgang Schäuble gratuliert der soeben zur Generalsekretärin gewählten Angela Merkel. Foto: Michael Jung

    Die These, sein einstiger Mentor Kohl habe ihn um die Kanzlerschaft gebracht, weil er 1998 in aussichtsloser Lage noch einmal antrat, bestreitet Schäuble. Ja, Kohl habe ihn immer wieder darin bestärkt, dass er sein Nachfolger werden solle und Franz Josef Strauß ihn sogar als „Kohls letzte Patrone“ beschrieben. „Aber ich wusste um seine Launen und seine Art.“ Für ihn sei klar gewesen, dass sich Kohls Regierungszeit nur durch eine verlorene Wahl beenden ließe. Außerdem habe er keine Lust gehabt, der Prinz Charles der Politik zu werden, der ewige Kronprinz. Zugetraut, das weiß man, hätte Schäuble es sich. 

    In seinen Träumen ging er noch zu Fuß

    Das Attentat vom 12. Oktober 1990, das ihn in den Rollstuhl zwingt, arbeitet er vergleichsweise kurz und sachlich auf. Christine, seine älteste Tochter, ist damals mit im Saal und ruft verzweifelt zu Hause an: „Ich glaube, der Papa ist tot.“ Schwer getroffen von drei Schüssen eines Mannes, den Schäuble als wahnhaft beschreibt. Rachegefühle gegenüber dem Attentäter, dem Sohn eines Bürgermeisters aus seinem Wahlkreis, habe er aber nie gehegt. „Er war krank.“ Schäubles Erinnerung setzt erst fünf Tage nach dem Anschlag wieder ein, „als ich verbunden, verkabelt und den Körper voller Sonden, Infusionen und Katheter aus dem Koma erwachte.“ Zu seiner eigenen Überraschung aber sei er stärker im Nehmen gewesen als gedacht. 

    Otto Graf Lambsdorff, der frühere Wirtschaftsminister, der im Krieg ein Bein verloren hatte, hat ihn einmal gefragt, ob er in seinen Träumen eigentlich aufrecht gehe oder ob er da auch im Rollstuhl säße. Er selbst, so Lambsdorff, sehe sich noch mit zwei Beinen: Schäuble ging es ähnlich: Im Traum war er noch Fußgänger. 

    Wolfgang Schäuble, Erinnerungen. Mein Leben in der Politik. Verlag Klett-Cotta, 38 Euro.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden