Herr Lintl, Sie sind aktuell in Israel. Hat die außerparlamentarische Opposition, die mit „noch nie da gewesenem Widerstand“ gedroht hat, nach der Zustimmung des Parlaments zur Justizreform in der ersten Lesung ihr Ziel erreicht, das öffentliche Leben lahmzulegen?
Lintl: Die Demonstrationen am Dienstag waren beeindruckend. Hunderttausende protestierten gegen die Reformen und für liberale Demokratie. Vor allem in Tel Aviv aber auch an anderen Orten und sogar am Flughafen fanden sich Tausende ein. Ein solches Eintreten für Prinzipien liberaler Demokratie ist international beispiellos. Sehr bedeutsam im israelischen Kontext sind Drohungen der Reservisten, insbesondere der Piloten. Sie sagen: Wenn ihr diese Reform umsetzt, werden wir uns nicht mehr zum Reservedienst melden. Das würde die Einsatzfähigkeit der israelischen Luftwaffe empfindlich treffen – auch weil das Protokoll festschreibt, dass diese Piloten jede Woche Stunden ableisten müssen, um Einsätze fliegen zu können. Die Armeeführung hat jetzt mit Verweis auf die verschiedenen Konfliktsituationen einen schärferen Ton gegen demonstrierende Reservisten angeschlagen und sie aufgefordert, sich nicht an den Protesten zu beteiligen und zum Dienst anzutreten. Doch den Reservisten scheint das recht egal zu sein, schließlich kann man sie nicht gesetzlich zum Dienst bei der Armee zwingen.
Viele Beobachter der Politik in Israel staunen, wie hartnäckig die Proteste gegen die Justizreform der Regierung von Benjamin Netanjahu und ganz allgemein gegen die Politik der in Teilen rechtsextremen Koalition sind. Sind sie als Kenner des Landes auch überrascht?
Lintl: Ich war zunächst auch ein wenig überrascht. Aber man darf nicht vergessen, dass es traditionell eine sehr intakte, gut organisierte Zivilgesellschaft in Israel gibt. Das ist schon ein Stück weit anders als etwa in Polen oder Ungarn. Es wäre international ohne Präzedenz, wenn es dieser Bewegung gelänge, zu verhindern, dass das Land einen antiliberalen Weg einschlägt.
Hat sich Netanjahu verkalkuliert?
Lintl: Ganz offensichtlich. In dem Sinne, dass er gedacht hat, er kann dieses riesige Justizreformpaket im Schnelldurchgang durchboxen. Er dachte, dass es einen Schockmoment geben würde, dass sich die Zivilgesellschaft erst dann besinnen und Widerstand leisten wird, wenn die Sache schon entschieden ist. Das war sein großer Fehler. Israelische Medien haben berichtet, dass der Justizminister Jariv Levin Netanjahu von dieser letztlich fehlgeschlagenen Taktik überzeugt hat.
Ist es in erster Linie die Justizreform, die die Leute auf die Straße treibt, oder geht es ihnen eher um den Erhalt der Demokratie?
Lintl: Das lässt sich kaum trennen. Die Justizreform der Regierung würde die Kontrollfunktion des Parlaments aushebeln. Das wäre nicht das Ende der Demokratie, aber das Ende einer liberalen Demokratie in Israel und eine Entwicklung in Richtung Ungarn und Polen. Derzeit versucht die Regierung, einen ersten, aber wichtigen Aspekt der Reform zu verabschieden, nämlich die Abschaffung des Prinzips der „Angemessenheit“. Dies ist ein grundlegendes Rechtsprinzip, das dem Obersten Gericht die Möglichkeit gibt, einzuschreiten, wenn eine Regierung „unangemessene“ Entscheidungen trifft. Kommt die Reform, könnten beispielsweise diejenigen in der Regierung, die die unliebsame Generalstaatsanwältin feuern wollen, ans Ziel kommen.
Spricht die Ausdauer der Demonstranten nicht gegen die These, dass die israelische Gesellschaft immer weniger liberal wird?
Lintl: Liberale Demokratie meint ja erst mal ein System von Checks and Balances – also der Gewaltenteilung – und Rechtsstaatlichkeit. Das hat zunächst einmal nichts mit Konflikten zwischen politisch Liberalen und Konservativen oder Strengreligiösen und Nichtgläubigen zu tun. Vor der Wahl gab es schon Mehrheiten für eine Justizreform in einzelnen Punkten. Aber gegen den nun von der Regierung vorangetriebenen massiven Umbau des Justizwesens sind nach Umfragen rund 60 Prozent der Israelis. Also auch unter Konservativen, insbesondere auch im Likud – der Partei von Netanjahu – und unter und deren Anhängern gibt es Leute, die die liberale Demokratie bewahren wollen und denen die Reform zu weit geht.
Geht es Netanjahu in erster Linie darum, sich gegen Korruptionsklagen abzusichern?
Lintl: Genau das ist der Punkt. Netanjahu war bis zur Anklage gegen ihn wegen Korruption ein Verteidiger des Obersten Gerichtshofes.
Sehen Sie Kompromisslinien?
Lintl: Da sehe ich derzeit kaum Chancen. Präsident Jitzchak Herzog hat gerade wieder aufgerufen, an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Das Problem ist, dass jeder Kompromiss, der die Opposition zufriedenstellen würde, für weite Teile der Regierung nicht tragbar wäre.
Vor einigen Wochen sah es so aus, als würde die Regierung bereit sein, die Justizreform zu stoppen, ja zu überdenken. Jetzt hat sie sich offensichtlich entschlossen, Teile davon nun doch zügig durch das Parlament zu bringen. In der Nacht auf Dienstag hat das Parlament in erster Lesung einem Teil der Reform zugestimmt. Welche Taktik steckt dahinter?
Lintl: Eigentlich wollte Netanjahu auf Zeit spielen. Doch auch für ihn sind die andauernden Massendemonstrationen natürlich nicht gut. Jetzt wird das Tempo doch wieder erhöht. Daraus lässt sich schließen, dass die Kräfte in der Regierung, die die Reform unbedingt haben wollen, erheblichen Druck auf Netanjahu ausüben. Theoretisch wäre es für die Regierung kein Problem, die notwendige zweite und dritte Lesung für den ersten Teil der Reform in wenigen Tagen durchzuziehen. Es sieht so aus, als dass der Druck auf Netanjahu aus Teilen der Koalition steigt, das auch zu machen.
Hohe Ex-Militärs, frühere Geheimdienstler sowie Vertreter der für Israel so wichtigen Hightech-industrie stellen sich gegen die Regierung. Was bedeutet das für Netanjahu?
Lintl: Netanjahu Popularität speiste sich durch den Wirtschaftsboom im Land – Israel als Start-up-Nation. Er wurde auch für das Ansehen bewundert, dass er bei verschiedenen Staatsführern in der Welt hatte. Das schwindet jetzt alles gerade. Gleichzeitig hat er nach wie vor die Unterstützung weiter Teile seiner Regierung und konservativer Wähler.
Welche innenpolitischen Auswirkungen hat die erst vor einigen Tagen beendete israelische Militäroffensive im Westjordanland?
Lintl: Einerseits gibt es eine sicherheitspolitische Logik dafür. Die Region um Dschenin ist außer Kontrolle geraten, auch die palästinensische Autonomiebehörde hat in der Region kaum noch Zugriff. Von dort gingen immer wieder Terrorangriffe aus – das sind die sachbezogenen Gründe. Die Frage ist aber immer auch, wie so etwas von der Regierung begleitet wird. So hat der Minister für Nationale Sicherheit, Ben Gwir, gefordert, man müsse „Tausende Terroristen töten“. Insbesondere von linksliberalen Medien wird die Vermutung geäußert, dass die Offensive auch politisch motiviert war.
Haben Sie eine Prognose, wie die Sache ausgeht?
Lintl: Das ist die schwerste Frage. Weil hier so viel für unterschiedliche Personen und Parteien auf dem Spiel steht und es sehr wenig Manövrierraum gibt. In Israel rechnen viele damit, dass das Gesetz noch vor der Sitzungspause im August beschlossen wird. So richtig kann ich mir nicht vorstellen, dass das so verabschiedet wird, weil das schon sehr radikal ist. Aber gut, es ist auch eine radikale Regierung. Vielleicht will ich es auch einfach nicht glauben.
Peter Lintl ist Nahostexperte. Lintl, der einige Zeit in Israel arbeitete und lebte, ist Leiter des Projektes "Israel in einem konfliktreichen regionalen und globalen Umfeld" bei der Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.