Was haben Sie gedacht, als jüngst der Bayerische Landtag zwei AfD-Kandidaten zu ehrenamtlichen Richtern am Bayerischen Verfassungsgerichtshof gewählt hat?
Michel Friedman: Eine weitere Fehlentscheidung.
Und wo stehen Sie in der Diskussion um ein Verbot der AfD durch das Bundesverfassungsgericht?
Friedman: Die politische Debatte darüber ist richtig, kommt allerdings viel zu spät. Wir alle wissen, dass ein Verbotsverfahren mindestens drei Jahre dauert, manchmal noch länger. Wenn nun drei Landtags- und 2025 eine Bundestagswahl anstehen, könnte so ein Verfahren leicht zu einem Propaganda-Instrument der AfD werden, das deren Anhänger mobilisiert. Nach dem Motto: Wir, die einzige demokratische Partei, werden von allen anderen, die sich Demokraten nennen, verfolgt, und man will unsere Möglichkeiten einschränken. Ohne vorgreifen zu wollen, glaube ich, dass bei der AfD ein Verbotsverfahren gute Chancen hätte. Aber der politische Schaden, den man kurzfristig durch so ein Verfahren in den kommenden zwei Wahljahren anrichtet, muss im Verhältnis zu dem Ertrag, nämlich einem Urteil, das erst in drei, vier Jahren vorliegen könnte, abgewogen werden.
Zugleich läuft die Diskussion, wie man die Staatsorgane – wie etwa das Bundesverfassungsgericht – widerstandsfähiger machen kann, sollten Verfassungsfeinde Mehrheiten erobern. Gerade noch rechtzeitig oder auch viel zu spät?
Friedman: Gerade noch rechtzeitig. Wir haben in Ländern wie Ungarn und Polen gesehen, wie schnell – übrigens mit demokratischen Mitteln – der Rechtsstaat manipuliert werden kann. Und deswegen ist es sehr wichtig, sich darauf vorzubereiten, dass die Institutionen und unsere Gewaltenteilung – egal wer in Deutschland regiert – geschützt sind.
Wo sehen Sie noch Einfallstore?
Friedman: Wir wissen, dass alle politischen Beamten sofort durch eine neue Mehrheit ausgewechselt werden können. Das gilt auch für die Verfassungsschutzpräsidenten sowohl der Länder als auch des Bundes. Das ist höchst problematisch, schauen Sie nur nach Thüringen. Denn wir haben heute an der Spitze des Bundesamtes für Verfassungsschutz mit Thomas Haldenwang einen unglaublich engagierten Mann, der ganz offen nicht nur die Tatsachen referiert, sondern auch davor warnt, dass die AfD demokratie-zersetzend ist.
Das ist auch der "Judenhass", gegen den Sie in Ihrem neuen Buch anschreiben. Sie sind von Ihrem Land bitterlich enttäuscht: Viele der Jüdinnen und Juden fühlen sich erst recht nach dem 7. Oktober allein gelassen, auch weil – gerade in Deutschland – so wenige aus Solidarität mit ihnen und gegen den Terror der Hamas auf die Straße gingen. Was muss geschehen, damit Sie und viele andere Jüdinnen und Juden keine Auswanderungsgedanken mehr hegen?
Friedman: Die Enttäuschung ist bei vielen da. Die Bundesrepublik hat der jüdischen Gemeinschaft versprochen: Nie wieder! Versprochen, gebrochen. Sie hat gesagt: Wehret den Anfängen! Wir sind aber mittendrin. Versprochen, gebrochen. Wir sind sogar nicht nur mittendrin, sondern weit darüber hinaus. Wir leben in einer Situation, in der die Partei des Hasses, des Antidemokratischen, des Antisemitischen und des Rassismus in alle Parlamente der Bundesrepublik gewählt und teilweise wiedergewählt wurde. Die sind keine Eintagsfliege, sondern ein systemisches Thema. Die AfD liegt in den Umfragen für die Landtagswahlen bei über 30 Prozent. Man sollte keine Hoffnung haben, dass das verschwinden könnte. Die Enttäuschung ist also, dass in Sonntagsreden seit Jahrzehnten Versprechen gemacht werden, aber von Montag bis Samstag nichts von einer Umsetzung zu sehen ist. Das betrifft die jüdische Gemeinschaft und jüdische Menschen, letztlich aber alle Menschen in diesem Land. Seien es schwarze Menschen, solche mit anderer sexueller Orientierung, Sinti oder Roma oder Muslime – es handelt sich immer um Menschen. Das Grundgesetz verspricht: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das bedeutet: Wenn man mit Gewalt auf einen Menschen zugeht, dann geht es um uns alle. Hass ist keine Meinung. Hass ist Gewalt. Hass ist hungrig und der Hunger ist nie gestillt.
Der Hass hat die Gesellschaft wieder vergiftet.
Friedman: Wenn man sieht, mit wie viel Hass diese Gesellschaft vergiftet ist – und das betrifft uns Juden zuallererst, letztlich aber, wie gesagt, alle – wenn man sieht, wie angespannt jüdisches Leben in diesem Land ist, kann man am besten erkennen, wie der Zustand unserer Demokratie ist. Es wurde nur versprochen. Und ich glaube, die große Enttäuschung am 7. Oktober war, dass es keine spontane Reaktion der Solidarität gab. Am 7. Oktober, man muss das mal so klar benennen, hat ein Pogrom in Israel stattgefunden. In unmenschlichster Form wurden jüdischen Menschen die Köpfe abgeschlagen, tote Frauen vergewaltigt, sind Babys verbrannt – und das alles wurde in den sozialen Medien gezeigt. Es gab aber keine spontane Reaktion der Solidarität – wie bei 9/11, wie bei dem Anschlag auf Charlie Hebdo, wo die französische Flagge am Brandenburger Tor aufgerichtet wurde, wo – völlig zurecht – Tausende zusammenkamen oder – völlig zurecht – wie bei den mutigen Frauen im Iran. Anscheinend hat dieser empathische Moment bei Juden nicht funktioniert. Das war ein Schock – auch Tage danach. Wenn in Deutschland umgekehrt von Anhängern der Hamas "Tötet die Juden" geschrien wird, dann schreit man: "Tötet die Demokratie". Das hat nichts mit dem Nahen Osten zu tun. Vor allem die Vierzigjährigen in den jüdischen Gemeinden, für die das Leben in Deutschland schon fast selbstverständlich war, hat das Fehlen von Solidarität sehr schockiert, und sie haben gemerkt, wie naiv sie eigentlich sind.
Es geht um viel mehr als um: Auswandern oder nicht?
Friedman: Ich kann nur jedem sagen: Sollte die AfD in die Bundesregierung kommen, ist es doch nicht nur an jüdischen Menschen, sich zu fragen: Will ich in einer autoritären Welt leben, in der die Künstler-, die Presse- und die Meinungsfreiheit angefasst werden? Ich denke, dass jeder Mensch, der frei sein will, in einem autokratischen System gehen müsste.
Nun hat es in den vergangenen Wochen, nachdem Pläne zur sogenannten "Remigration" bekannt wurden, Massendemonstrationen gegen die AfD, gegen Fremdenhass und Antisemitismus gegeben. Konnte das Ihre Enttäuschung lindern?
Friedman: Ich bin sehr froh, dass es diese Demonstration gab. Aber die Demonstrationen, die wir in den letzten Wochen erlebt haben, waren eine Reaktion auf die Deportationsfantasien, die Correctiv aufgedeckt hat. Nicht eine Reaktion auf den Judenhass. So gesehen, habe ich ein glückliches Auge und weiterhin ein weinendes Auge. Diese Einsamkeit nach dem 7. Oktober, dieses nicht umarmt worden zu sein, bleibt nach drei Monaten eine nicht mehr zu ändernde Tatsache.
Wo hat der Staat versagt?
Friedman: Die Politik, das muss man fairerweise sagen, hat nach dem 7. Oktober nicht versagt. Alle demokratischen Parteien im Nahen Osten und in Deutschland haben gespürt: Das geht an die Substanz, und zwar nicht an die Substanz des jüdischen Lebens, sondern das geht an die Substanz des demokratischen Lebens der Masse der Gesellschaft. Es gab auch viele Menschen, die reagiert haben, es gab hier und da Aktionen und Demonstrationen. Aber die Gesamtzahl aller Demonstranten in Deutschland war höchstens 25.000. Der Rest war Schweigen, und dieses große Schweigen ist entsetzlich in den Ohren der jüdischen Gemeinschaften. Das ist ein tiefer Einschnitt.
Ist das zu reparieren?
Friedman: Es wird lange dauern, bis Vertrauen zurückkehrt. Ich bin vor allem traurig darüber, dass es die Generation der heute 40-Jährigen so trifft. Die haben in den letzten Wochen zu klären gehabt, ob sie – was völlig selbstverständlich sein sollte – einen Teil unserer Identität nach außen tragen, ob sie beispielsweise noch die Kette mit dem Davidstern tragen oder ob wir unsichtbar werden. Das können Erwachsene noch aushalten. Wenn Eltern das aber für ihre Kinder entscheiden müssen, ist das eine dramatische Entscheidung, weil sie damit ihren Kindern signalisieren, Jüdisch-Sein heißt, Angst haben müssen. Und in einer Konsequenz: sei unsichtbar. Das sind Prozesse, die ganz tief in das Leben des Menschen und der Familie eindringen. Ich nehme es jedem, der hasst, übel, wenn er das Leben von Kindern vergiftet. Jüdische Kinder, nicht-jüdische Kinder, muslimische Kinder, das ist mir völlig egal. Die Kinder verlieren ihre Naivität, ihre Leichtigkeit, wenn sich ihr Leben mit der Angst verbindet, beleidigt, geschlagen oder gar getötet zu werden.
Wie müssen die Deutschen unsere Erinnerungskultur, die nicht wenige ja für ausgeprägt halten, ändern, damit "Nie wieder" keine hohle Phrase bleibt?
Friedman: Nach der Nazi-Diktatur erzählten Täter, Mittäter und Mitläufer ihren Kindern in der Regel gar nichts. Diese Kinder konnten ihren Kindern wiederum nichts erzählen, weil ihre Eltern ihnen auch nichts erzählt haben. Wenn man dann von einer kommunikativen Erinnerungskultur oder einem Gedächtnis spricht, dann ist das ein schwarzes Loch, das mit der Überschrift 'Schweigen' zu tun hat. Aber gleichzeitig hat die Generation, die jetzt um die 60 Jahre ist, sich enorm angestrengt, Wissen zu erhalten und aus dem Wissen heraus zu verstehen, was da passiert ist. Das hat mich immer sehr beeindruckt. Aber am Ende reicht kognitives Wissen nicht, um ein kollektives Gedächtnis zu erarbeiten, sondern es braucht die emotionale Seite, es braucht die Gefühlsseite, um zu verstehen: Warum hat Vater das gemacht, warum haben Menschen das überhaupt gemacht? Wir müssen die Täter mehr in den Blick nehmen, wir müssen etwas Neues entwickeln. Ob wir das können, da bin ich pessimistisch.
Was sollten wir heute tun?
Friedman: Wir müssen uns fragen: Wie funktioniert die Entdemokratisierung, wie kommt es, dass der Hass immer mehr Raum bekommt? Warum ist das Mitläufertum so schnell da? Da ist die Geschichte des Dritten Reiches exemplarisch. Wir müssen uns fragen: Wie viele Anfänge der Gewalt haben wir wieder übersehen? Wir sind heute die Zeitzeugen.
Vielen Parteien, auch Ihre, die CDU, packen AfD-Wähler in Watte und sagen: Die sind nicht alle rechtsextrem, das sind Protestwähler. Ist das – allerspätestens nach dem Treffen von Potsdam – überhaupt noch akzeptabel?
Friedman: Es gibt eine Sehnsucht, sich nicht einzugestehen, dass man in Deutschland strukturell zwischen 10 und 15 Prozent der Bevölkerung hat, die antidemokratisch und im Rahmen des Antidemokratischen rassistisch sind. Der Begriff des Protestwählers hat ein, zwei Jahre gewirkt, um nichts zu tun. Das war ja das Spannende: Ein Protestwähler käme ja zurück, wenn der Grund seines Protestes, also bessere Politik, stattfinden würde. Nun zeigt sich, dass die Anzahl der "Protestwähler" dramatisch wächst. Trotzdem halte ich es für falsch, das immer nur und primär mit der schlechten Politik dieser Regierung und dieser Opposition zu begründen. Wer bei der AfD sein Kreuz macht, weiß, dass er mit seiner Stimme der Partei des Hasses und des Antidemokratischen politische Macht gibt. Allein dafür habe ich sie verantwortlich zu machen. Es ist mir völlig egal, ob sie aus Protest wählen oder nicht. Hinzu kommt: Die Brandmauer ist ohnehin weg, wenn die Gefahr droht, dass wir nach den drei kommenden Landtagswahlen drei Parlamentspräsidenten der AfD haben könnten oder Herr Höcke als möglicher Ministerpräsident von Thüringen über den Bundesrat über Bundesgesetze mitentscheidet. Das sind doch nicht mehr Anfangspunkte der Entdemokratisierung, sondern wir sind dann schon im Beginn der Übernahme von Exekutivmacht. Das ist mehr als nur ein Zwischenspiel.
Zur Person: Der Rechtsanwalt, Philosoph, Publizist und Moderator Michel Friedman war von 2000 bis 2003 stellvertretender Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland und Herausgeber der Wochenzeitung Jüdische Allgemeine. Von 2001 bis 2003 war er zudem Präsident des Europäischen Jüdischen Kongresses. Er engagiert sich seit Jahren gegen Rechtsradikalismus. Sei neues Buch, geschrieben nach dem 7. Oktober, heißt "Judenhass" (Berlin Verlag).