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Interview: Katarina Barley: "Für Blauäugigkeit ist schon lange kein Platz mehr"

Interview

Katarina Barley: "Für Blauäugigkeit ist schon lange kein Platz mehr"

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    Katarina Barley, Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, sagt, dass die EU-Kommission sehr genau darauf achten muss, was Meloni in Italien vorhat.
    Katarina Barley, Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, sagt, dass die EU-Kommission sehr genau darauf achten muss, was Meloni in Italien vorhat. Foto: Katarina Barley, SPD

    Spitzenkandidatinnen dominieren den Europawahlkampf in Deutschland: Da sind Sie, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), Carola Rackete (Linke) und Terry Reintke (Grüne). Was bedeutet das?

    Katarina Barley: Das zeigt, dass Frauen mittlerweile die Hälfte der Macht beanspruchen. Mindestens. Aber es muss nicht immer bei 50 Prozent Schluss sein, auch wenn manche dies denken. 

    Verändert die hohe Frauenquote den Wahlkampf?

    Barley: Es gibt natürlich faire und unangenehme Personen beiderlei Geschlechts. Aber mit den Frauen, mit denen ich zu tun haben werde, geht es – soweit ich sie persönlich kenne – gut. 

    EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) strebt eine zweite Amtszeit an, möchte aber gleichzeitig nicht für das EU-Parlament kandidieren. Wie finden Sie das?

    Barley: Das war vorhersehbar. So muss sie sich keinem Wahlkampf stellen. Die Rückmeldungen dazu sind oft negativ, weil sie schon vergangenes Mal ins Amt kam, ohne zur Wahl gestanden zu haben. In Brüssel wird total unterschätzt, wie viele Menschen sich noch heute darüber aufregen, dass Frau von der Leyen Kommissionspräsidentin geworden ist, ohne im Wahlkampf angetreten zu sein.

    Die EU hat sich vor ein paar Wochen im Grundsatz auf ein Asylpaket geeinigt. Wann dürfen die Bürgerinnen und Bürger mit einem spürbaren Rückgang der Flüchtlingszahlen rechnen?

    Barley: Endgültig beschlossen ist das Paket noch nicht, an den letzten Einzelheiten wird gefeilt. Aber es wird wohl zum Ende dieser Legislaturperiode in Kraft treten und dann muss es umgesetzt werden. Manches kann zügiger angegangen werden: etwa die Registrierung der Flüchtlinge, deren Identifizierung, die Gesundheits- und Sicherheitschecks. Anderes wird länger dauern. Bei den geplanten Grenzverfahren muss man schauen, wo man sie durchführt. Der Sinn dieser Reform ist schließlich, viel schneller zu wissen, wer bleiben kann und wer nicht, und so die Zahlen zu senken. Ich hoffe daher, dass die EU-Mitgliedsstaaten ihrer Verantwortung gerecht werden und ihren Teil der Asylberechtigten aufnehmen. 

    Noch ist aus der Einigung kein Gesetz geworden. Wie zuversichtlich sind Sie, dass das noch vor den Europawahlen gelingt?

    Barley: Wenn die Einigung zustande kommt, wird kurz vor den Wahlen im Juni daraus ein Gesetz. Die Effekte setzen daher sehr wahrscheinlich erst danach ein.

    Verstehen Sie, warum Bürger manchmal an der EU verzweifeln? Die Verhandlungen über das Paket dauern acht Jahre an.

    Barley: Das stimmt. Aber das Problem dabei ist nicht die Europäische Union, das sind die Mitgliedsstaaten. Die Ankunftsstaaten halten sich oft nicht an die Regeln, sie registrieren und identifizieren Asylsuchende nicht, sondern winken die Menschen einfach durch. Die anderen Mitgliedsstaaten nehmen sie nicht auf. Im Grunde hält sich im Moment keiner dran. Die Kommission hätte natürlich früher einen Vorschlag vorlegen können, nur hat der Europäische Rat vorher auch keine Einigkeit hinbekommen. Horst Seehofer hatte das damals versprochen, aber nicht geschafft. Nancy Faeser ist es nun endlich gelungen.

    Victor Orbán hat sich am Donnerstag, als es um die Ukraine-Hilfen ging, doch gefügt – aber im Dezember hat er die EU doch wieder erpresst und zehn Milliarden Euro bekommen, die wegen Rechtsstaatsverstößen in Ungarn von der EU zunächst zurückgehalten wurden. Hat von der Leyen sich vor Weihnachten über den Tisch ziehen lassen?

    Barley: Frau von der Leyen hat die Entscheidung in der Hand, ob Ungarn die Voraussetzungen erfüllt hat, um die Gelder freizugeben. Sie hat sich dazu entschieden, das zu tun. Aus meiner Sicht war das falsch. Es ging vor allen Dingen um die Justizreform in Ungarn. Gelder freizugeben, ohne dass Orbán beweist, dass die Gerichte mehr Unabhängigkeit haben, ist blauäugig. Und für Blauäugigkeit gibt es schon lange keinen Raum mehr. 

    Bleiben Sie auch nach der Einigung für die Ukraine-Hilfen dabei, dass die EU Ungarn das Stimmrecht entziehen sollte, damit Europa künftig besser geführt werden kann?

    Barley: Ja. Ich will, dass ein Regierungschef, der in seinem Heimatland die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit fast bis zur Unkenntlichkeit abgebaut hat, der sich die Taschen mit europäischem und ungarischem Geld vollmacht, der EU-Entscheidungen blockiert, im Interesse seines Landes damit nicht mehr weitermachen kann. Er verstößt gegen die Europäischen Verträge, schadet Ungarn und lähmt immer wieder die EU. 

    Kommen wir zur Lage der SPD. Schon bei der vergangenen Europawahl 2019 waren Sie Spitzenkandidatin und holten 15,8 Prozent. Das war für die Sozialdemokraten das bisher schlechteste Ergebnis bei einer bundesweiten Wahl. Wenn Sie diese 15,8 Prozent im Juni wieder erreichten, wäre das ein Erfolg?

    Barley: Ich möchte für die SPD natürlich gerne mehr als das erreichen. Und das hat die SPD auch verdient.

    Von der Bundesregierung – auch wenn es für die SPD beim jüngsten Deutschlandtrend immerhin von 14 auf 16 Prozent ging – bekommen Sie nicht so richtig Rückenwind.

    Barley: Das ist ein Anfang. 

    Zwei Prozent nennen Sie Rückenwind? Und der Kanzler, der niedrigste Beliebtheitswerte hat, gibt der ihnen Rückenwind?

    Barley: Unser Kanzler, Olaf Scholz, ist eine sehr starke Führungsfigur in Europa. Das haben wir beim EU-Gipfel vergangene Woche wieder gesehen. Er hat den Autokraten Viktor Orbán endlich in die Schranken gewiesen.

    Es wäre schön, wenn er das in Deutschland öfter zeigen würde.

    Barley: Man weiß in Europa, dass Olaf Scholz der Architekt des Wiederaufbaufonds ist, durch den Europa wirtschaftlich gut durch die Pandemie gekommen ist. Oder wie er die EU-Erweiterungspolitik angeht. Um nur zwei Beispiele zu nennen. Er macht sehr viele kluge Dinge, die jahrelange Vorarbeit brauchen. Nehmen Sie – drittes Beispiel – die globale Mindeststeuer für große Konzerne, die hat auch er hinbekommen. 

    Was müsste die Ampel-Regierung besser machen, damit Sie wirklich mehr Rückenwind bekommen?

    Barley: Die müsste einfach mal aufhören, sich öffentlich gegen das Schienbein zu treten. Und damit meine ich dezidiert nicht die SPD und nicht Olaf Scholz. Ich verstehe das Agieren der FDP nicht, auch nicht in Europa. Derzeit blockieren sie mindestens vier wichtige Vorhaben – und das immer in letzter Sekunde. Das ist nicht europäisch gedacht und gehandelt. 

    Bleiben wir doch bei der SPD. Im Gegensatz zum Bundeskanzler ist Verteidigungsminister Boris Pistorius sehr beliebt. Zu Recht aus Ihrer Sicht?

    Barley: Zu Recht. Ich schätze ihn persönlich und fachlich sehr. 

    Kann er Kanzler?

    Barley: Ich schätze sowohl Boris Pistorius als auch Olaf Scholz über alle Maßen. Sie machen großartige Arbeit, jeder in seiner Funktion.

    Wäre Pistorius mit Blick auf die Bundestagswahl 2025 der zugkräftigere SPD-Kanzlerkandidat?

    Barley: Sie werden nicht erwarten, dass ich darüber jetzt spekuliere. 

    Sie stellen den Kampf gegen rechts in den Vordergrund ihrer Kampagne. Wie stellt man die AfD, die zuletzt in den Umfragen drei Prozent verloren hat?

    Barley: Man muss sie enttarnen und zeigen, wer sie sind, was sie tun und was sie wollen. Das ist zum Beispiel durch die Recherchen von Correctiv – Stichwort Deportation – gelungen. Die AfD schadet auch der arbeitenden Mitte. Nehmen Sie die Idee vom „Dexit“. Ernsthaft vorzuschlagen, dass Deutschland, das in der Mitte Europas liegt, in dem jeder fünfte Arbeitsplatz von der EU abhängt, aus der EU austritt, ist wahnsinnig. So würde weggeworfen, was sich Generationen hier aufgebaut haben. Mein Vater ist Brite. Wir waren zuletzt wieder auf der Insel. Wer sich die Verhältnisse – Wirtschaft und Arbeitsplätze – da anschaut, sieht sofort, dass der Brexit die mit Abstand schlechteste Idee für Großbritannien war. Die Massendemonstrationen gegen die AfD machen mir Hoffnung. 

    Gefahr von Extremisten droht auch in anderen EU-Ländern. Viktor Orbán ist das große Vorbild für Italiens postfaschistische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Die verschärft inzwischen nicht nur den Ton gegenüber den Medien. Wie sehr sorgt Sie, was in Italien gerade passiert?

    Barley: Giorgia Meloni hat zwei Gesichter: Auf europäischer Ebene ist sie kompromissfähig. Aber in Italien versucht sie, die Medien zu drangsalieren, und wie Orbán, die Justiz zu stutzen. Was in Italien allerdings gewagt ist, denn die italienische Justiz ist knallhart und – im jahrzehntelangen Kampf gegen die Mafia – sehr selbstbewusst. Meloni will das Wahlrecht zu ihren Gunsten ändern. Sollte sie das umsetzen und damit europäische Werte verletzen, ist es Aufgabe der Kommission als Hüterin der Verträge, diese zu verteidigen. 

    Zum Schluss ein Blick auf Deutschlands wichtigsten Partner in der EU: Wie schlecht ist das deutsch-französische Verhältnis unter Scholz und Macron wirklich?

    Barley: Beide sind verschieden, aber Vollprofis und wissen, dass ohne die deutsch-französische Achse in Europa nichts geht. 

    Nicht nur wenn Trump wiedergewählt wird, wird die EU in Verteidigungsfragen künftig mehr auf sich gestellt sein. Wenn die USA die Nato tatsächlich verlassen würden, sollte Deutschland dann von französischen Atomwaffen geschützt werden?

    Barley: Es gibt in Amerika viele vernünftige Menschen, die sich wehren werden, wenn Trump das tatsächlich angehen würde. Die weitere Frage muss im Zuge der enger werdenden europäischen Zusammenarbeit in Verteidigungsfragen geklärt werden. 

    Zur Person: Katarina Barley, 55, vormals SPD Generalsekretärin und Bundesministerin, ist Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments und zieht für die SPD nach 2019 erneut als Spitzenkandidatin in den Europawahlkampf. 

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