Herr Professor Güllner, die SPD hofft mit Olaf Scholz als Kanzlerkandidat, eine Wiederholung des Überraschungserfolges von 2021 zu schaffen. Hat er Chancen?
Manfred Güllner: Die Umfragen zeichnen ein eindeutiges Bild. Nach drei Jahren Regierung in der Ampelkoalition befinden sich die SPD und das Vertrauen zu Kanzler Olaf Scholz auf einem absoluten Tiefpunkt. Dieses Vertrauen binnen weniger Wochen bis zur Wahl zurückzugewinnen, scheint äußerst unwahrscheinlich. Die SPD bräuchte dafür ein Wunder, doch die gibt es in der Politik selten.
Besteht für die Partei die SPD wenigstens die Chance auf eine Trendwende, nachdem die Kanzlerkandidatendebatte geklärt ist?
Güllner: Grundsätzlich sind ein paar Prozentpunkte nach oben immer möglich. Um aber stärkste Kraft zu werden, müsste die SPD über 25 Prozent kommen und das scheint aus heutiger Sicht schlicht unrealistisch. Sie kommt aktuell wie schon fast immer im Verlaufe dieses Jahres nur auf 15 Prozent und ist damit weiterhin hinter Union und AfD nur drittstärkste Partei.
Hätte die SPD mit Boris Pistorius als Kanzlerkandidaten besser abschneiden können?
Güllner: Mit Boris Pistorius als Kanzlerkandidat hätte die SPD bessere Chancen gehabt, aus dem Umfragetief herauszukommen. Mit ihm als Kanzlerkandidaten wäre der Anteil der Partei laut aktuellem RTL/ntv-Trendbarometer um sechs Prozentpunkte größer als mit Scholz. Mit 21 Prozent wäre die SPD zwar auch nicht stärkste, aber immerhin die zweitstärkste Partei. Insofern dürfte es aus rein wahlarithmetischer Sicht ein Fehler sein, Pistorius nicht als Kanzlerkandidaten aufzustellen.
Hat die SPD eine Chance, viele Kernwähler zurückzugewinnen, wie sie es 2021 mit der „Respekt“-Kampagne versucht hat?
Güllner: Der Anteil der SPD-Kampagne von 2021 am Wahlerfolg wird überbewertet. Wie unsere damaligen Untersuchungen zeigen, hatte Olaf Scholz in erster Linie von den Fehlern des CDU-Kanzlerkandidaten Armin Laschet und genauso der Grünen-Kandidatin Annalena Baerbock profitiert. Am Ende wurde Scholz mit einem Ergebnis von nur 25,7 Prozent Kanzler– zum Vergleich: Gerhard Schröder wurde 2005 mit 34,2 Prozent abgewählt. Von solchen Ergebnissen kann die SPD derzeit nur träumen.
Seit zwei Jahren liegt die AfD in den Umfragen vor der SPD und gilt inzwischen als stärkste Arbeiterpartei. Was können Union und SPD dagegen tun?
Güllner: Der Erfolg der AfD ist vielschichtig. Zwar hat sie in der Arbeiterklasse stark zugelegt, aber ihre Kernwähler stammen aus einem statusverunsicherten, radikalisierten Segment der Mittelschicht. Der eigentliche Aufstieg der AfD begann zudem erst nach dem Sommer 2023, als der Unmut über die Ampelregierung eskalierte. Besonders die FDP hat massiv Wähler an die AfD verloren. Die Union hat es nicht geschafft, die mit der Ampel unzufriedenen Wähler für sich zu gewinnen. Für die SPD wäre der einzige Weg, verlorene Arbeiterwähler zurückzugewinnen, eine glaubwürdige Rückbesinnung auf die Interessen der arbeitenden Bevölkerung. Doch hier ist das Vertrauen zur Partei zutiefst erschüttert.
Könnte eine klare Polarisierung zwischen den inhaltlich so unterschiedlichen Kandidaten Friedrich Merz und Olaf Scholz die AfD in den Hintergrund drängen?
Güllner: Das ist unwahrscheinlich. Beide Kandidaten sind keine echten Zugpferde, die Begeisterung auslösen können. Scholz hat massiv an Vertrauen eingebüßt, Merz ist vor allem bei Frauen und jungen Menschen unbeliebt. Wenn man den Unmut über die Ampel bedenkt, müsste die CDU eigentlich weit über 35 Prozent liegen, doch Merz kommt dafür einfach zu schlecht in der Bevölkerung an. Dieser Mangel an überzeugenden Alternativen könnte am Ende die AfD eher stärken und nicht schwächen.
Auch FDP und Grüne treten mit dem Spitzenpersonal der Ampel an. Wie wirkt das auf die Wähler?
Güllner: Viele Wähler dürften es für eine Zumutung halten, dass alle Ampelparteien mit den gleichen Spitzenleuten antreten. Für die FDP ist die Lage prekär: Die FDP hat besonders den Mittelstand enttäuscht, der auf konkrete Entlastungen bei Steuern, Abgaben und vor allem Bürokratie gehofft hat. Hier hat die FDP ihr Klientel regelrecht verbittert. Auch die Grünen, die einst auf dem Weg zur Volkspartei schienen, sind auf ihre Kernwählerschaft zurückgefallen. Die Spitzenkandidaten Lindner und Habeck stehen wie Scholz für die Fehler der Ampel – und das nehmen die Wähler sehr wohl wahr.
Im Winter könnte die Arbeitslosigkeit laut Bundesagentur für Arbeit die Drei-Millionen-Marke überschreiten. Welchen Einfluss hätte dies auf die Stimmung?
Güllner: Wir wissen aus historischen Erfahrungen, dass hohe Arbeitslosigkeit die radikalen politischen Kräfte stärkt. Das Erreichen der psychologisch wichtigen Drei-Millionen-Marke bei den Arbeitslosenzahlen könnte die AfD weiter stärken. Für die Union ist mit einem wirtschaftspolitischen Wahlkampf das Potenzial inzwischen begrenzt: Die Wähler, die sie 2021 wegen des Frusts über Laschet an die FDP verloren hatte, hat sie in den Umfragen längst zurückgewonnen. Auch aus dem Lager der nun stark geschwächten SPD hatte sie bereits Zulauf. Für die Union gibt es im Grunde nur noch etwas bei der Wählerschaft der AfD zu holen. Doch das wird in wirtschaftlich sich verschlechternden Zeiten immer schwieriger.
Der Kanzler macht die Sorgen der Menschen vor einer Ausweitung des Ukrainekriegs zum Thema. Wird das die Wahl beeinflussen?
Güllner: Außenpolitische Themen spielen bei Bundestagswahlen selten eine entscheidende Rolle. Auch für Kanzler Schröder war bei seiner Wiederwahl 2002 nicht sein Nein zum Irakkrieg entscheidend, sondern sein Umgang mit der Hochwasserkatastrophe in Ostdeutschland. Die entscheidenden Themen dieser Wahl werden voraussichtlich die wirtschaftliche Lage und soziale Fragen sein, insbesondere angesichts der weiterhin hohen Lebenshaltungskosten und der steigenden Arbeitslosigkeit.
Zur Person: Manfred Güllner, 82, gilt als bekanntester deutscher Meinungsforscher. Im Jahr 1984 gründete der Soziologe Forsa, als eines der führenden deutschen Umfrageinstitute. Güllner ist Honorarprofessor an der FU Berlin.
Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.
Registrieren sie sichSie haben ein Konto? Hier anmelden