Angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine und der sich stark verändernden sicherheitspolitischen Lage könnte die Wehrpflicht in Deutschland zurückkehren. Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) macht bei dem Thema Druck. Bereits bis zum 1. April soll sein Haus verschiedene Möglichkeiten für ein Wehrdienstmodell geprüft haben und Optionen vorlegen. Pistorius geht es dabei auch um "gesamtstaatliche Resilienz", wie aus dem Auftrag hervorgeht. Als Vorbild könnte das schwedische Modell dienen, das sich der Verteidigungsminister vergangene Woche vor Ort erläutern ließ.
Söder: Bundeswehr muss wachsen und in Gesellschaft verankert sein
CSU-Chef Markus Söder ist einer der glühendsten Verfechter der Wehrpflicht. Deutschland stehe sicherheitspolitisch vor völlig neuen Herausforderungen. Die Sicherung langer Nato-Grenzen und die Verteidigung des Landes erforderten deutlich mehr Einsatz und eine entschlossene Politik. "Deshalb muss die Bundeswehr wieder wachsen und stärker in der Gesellschaft verankert werden. Unser Land braucht 100 Prozent Verteidigungsfähigkeit", betonte Söder gegenüber unserer Redaktion.
Dass die Wiedereinführung der Wehrpflicht nicht über Nacht zu machen wäre, ist auch Söder klar. Ihm schwebt ein mittelfristiges Zeitfenster von fünf bis sieben Jahren vor. Konkret fordert Söder "eine vernünftige Grundausbildung von mindestens sieben Monaten für junge Männer". Zudem müsse die Bundeswehr schon jetzt den freiwilligen Wehrdienst attraktiver machen. "Dazu gehört eine höhere finanzielle Unterstützung und ein Bonus für das spätere Studium oder die Ausbildung", sagte der bayerische Ministerpräsident. "Funktionierende Verteidigung ist der einzige Weg, in Zeiten neuer Bedrohungen und Kriege unsere Freiheit und unseren Wohlstand in Europa langfristig zu sichern."
In Deutschland war die Wehrpflicht im Jahr 2011 unter dem damaligen Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) ausgesetzt worden. In der Praxis kam dies einer Abschaffung von Wehr- und Zivildienst gleich. Die Bundeswehr ist seither eine Berufsarmee.
Oberst Kirsch: Es gibt fast keine Reserve
Auch Oberst Ulrich Kirsch, langjähriger Chef des Bundeswehrverbands, spricht sich klar für eine Wehrpflicht aus. Er wisse zwar, dass die Wiedereinführung derzeit parteipolitisch keine Mehrheit habe. "Dennoch ist es dringend notwendig, genau darüber zu sprechen. Wir brauchen hierzu eine breite gesellschaftliche Debatte mit zeitnahem Ergebnis“, betonte Kirsch gegenüber unserer Redaktion. Der Bundeswehr fehlen nach Darstellung von Oberst Kirsch derzeit rund 20.000 Männer oder Frauen. Es gebe fast keine Reserve. "Nichts tun ist angesichts der Bedrohung – nicht zuletzt durch Wladimir Putin – aus meiner Sicht keine Option und unverantwortlich", sagte der Experte. Ulrich Kirsch war von Anfang 2009 bis 2013 Bundesvorsitzender des Bundeswehrverbands. Einen Weg zurück zum früheren System sieht er nicht. "Ich finde das schwedische Modell interessant", so Kirsch.
In Schweden gilt die Dienstpflicht für alle
Dort werden alle Wehrpflichtigen erfasst und dann individuell angeschrieben, ob ein Dienst an der Waffe infrage kommt oder ob sie einen Dienst im Zivil- oder Katastrophenschutz leisten wollen. Die Dienstpflicht gilt für Frauen und Männer gleichermaßen. Ob das Modell in Deutschland eins zu eins umgesetzt werden könnte, ist jedoch umstritten.
Wehrbeauftragte Eva Högl (SPD), die an diesem Dienstag ihren Jahresbericht vorlegt, befürwortet einen Gesellschaftsdienst, der neben der Bundeswehr auch Bereiche wie Soziales, Umwelt oder Kultur abdeckt. Es gehe um unsere Gesellschaft und was jede und jeder für unsere Gesellschaft tun könnte und sollte. "Ich bin überzeugt, dass es unserer Gesellschaft guttäte, wenn alle sich eine Zeit lang engagieren", sagte Högl vergangene Woche.
Grünen-Experte Hofreiter: Wehrpflicht würde sehr viele Ressourcen verbrauchen
Der Grünen-Verteidigungsexperte Anton Hofreiter sieht eine Wiedereinführung der Wehrpflicht sehr kritisch. Sie würde die Bundeswehr "vor erhebliche Herausforderungen stellen und sehr viele Ressourcen verbrauchen", sagte Hofreiter unserer Redaktion. Der Nutzen dagegen sei durchaus fragwürdig. "Was die Bundeswehr braucht, sind bessere Arbeitsbedingungen, eine vernünftige Ausstattung. Und eine gute europäische Zusammenarbeit", betonte Hofreiter. Der Grünen-Politiker kritisierte zudem, dass die Diskussion um eine Dienstpflicht vor allem von denen befürwortet werde, die sie nicht betreffe. "Man darf jüngere Menschen in dieser Debatte nicht von oben herab behandeln", so Hofreiter.