Plötzlich spielt die Chefin in luftigen Kanzlersphären. Sahra Wagenknecht belegt in einer Umfrage der Meinungsforscher von Insa den dritten Rang hinter Boris Pistorius (SPD) und Markus Söder (CSU). Danach folgen die beiden CDU-Schwergewichte Hendrik Wüst und Friedrich Merz. All diese Männer wollen Kanzler werden oder es wird ihnen nachgesagt.
Von Wagenknecht ist nicht bekannt, ob sie danach strebt. Ihre gleichnamige Partei Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) machte aus der Umfrage die Schlagzeile, dass die Frontfrau die beliebteste Politikerin des Landes ist. Das stimmt natürlich, wenngleich es ulkig ist, weil das Bündnis eigentlich die sprachliche Hervorhebung des Geschlechter-Aspekts ablehnt.
„Das ist so ein Wahnsinn"
Doch um ein halbes Jahr nach der Gründung einen tiefen Eindruck bei Wählern und der politischen Konkurrenz zu hinterlassen, genügt auch der dritte Platz. Das BSW ist die Partei der Stunde. „Es gab wirklich noch keine Partei, die sechs Monate nach der Gründung ein solches Ergebnis hatte, eine Partei, die bei null gestartet ist“, rief Wagenknecht am Abend der Europawahl. „Das ist so ein Wahnsinn.“
Aus dem Stand hatte man 6,2 Prozent geholt und die zum Inventar der Bundesrepublik zählende FDP hinter sich gelassen. Das allein wäre ein Achtungserfolg, aber die wirkliche Wucht der neuen Formation rührt von ihren Aussichten in Ostdeutschland. In Thüringen in den Umfragen 20 Prozent, in Sachsen 15 Prozent, in Brandenburg 13 Prozent. Nach den Wahlen im September könnte das BSW mit Ministern in den Landesregierungen vertreten sein.
Der Grund: Weil die AfD möglicherweise als stärkste Kraft vom Feld geht, müssen die anderen sich zusammentun, um die Rechtsnationalen von der Macht fernzuhalten. Die jüngste Partei wird gebraucht, um die zweitjüngste zu verhindern. Was nun dem BSW bei der Europawahl glückte, war AfD in ihrem Gründungsjahr 2013 nur beinahe gelungen. Sie verpasste damals knapp den Einzug in den Bundestag.
Putinversteherei ist im Osten kein großes Problem
Doch zwei Dinge unterscheiden die Parteien in ihrer Gründungsphase. Die AfD musste sich seit dem ersten Tage den Vorwurf anhören, irgendwie rechts und national zu sein, was in der Anfangsphase als Professorenpartei nicht unbedingt zutraf, aber bis dato stets als ausgrenzendes Abwehrargument funktioniert hatte. Gegen Wagenknecht und deren Leute sind die Igitt-Vorwürfe schwächer. Populismus und Putin-Freundschaft lauten sie. Letzteres ist in Ostdeutschland kein (großes) Problem. Und Ersteres kommt auch bei den Etablierten nicht nur im Wahlkampf vor, siehe zum Beispiel die CSU.
Weil das BSW sowohl konservative Positionen vertritt, etwa eine strikte Begrenzung der Migration, als auch linke Positionen, wie den Kampf gegen Großkonzerne, kann es inhaltlich noch nicht in eine Ecke gestellt werden. Noch wichtiger ist der Unterschied bei der Rekrutierung der Mitglieder. Das BSW achtet peinlich genau darauf, Schwärmer, Glücksritter, Irrlichternde und AfD-U-Boote außen vor zu lassen.
Bis heute zählt das BSW nach eigenen Angaben nur 650 Mitglieder, über die der Bundesvorstand entscheidet. Hinzu kommen Tausende Unterstützer, die beim Wahlkampf helfen oder Geld spenden. Das hat den Vorteil, dass die Vollmitglieder in den Landesverbänden zumindest die Aussicht haben, vom Kuchen der Wahlerfolge persönlich etwas abzubekommen.
Noch ist im BSW alles auf Wagenknecht zugeschnitten
Der Landesverband Brandenburg beispielsweise zählt 33 Mitglieder. An der Spitze steht Robert Crumbach, ein Arbeitsrichter, der vorher lange bei der SPD aktiv war. In Thüringen will die scheidende Eisenacher Oberbürgermeisterin Katja Wolf die Partei in den Landtag führen. Sie gilt als pragmatisch, machte 30 Jahre Politik für PDS und Linke. Von dieser Partei kommt auch die sächsische BSW-Vorsitzende Sabine Zimmermann. Sie saß zwischen 2005 und 2021 im Bundestag und war Chefin des Gewerkschaftsbundes in Südwestsachsen. Alle drei eint, dass sie pragmatische, vorzeigbare Kandidaten sind. Profis, wenn man so will.
Noch ist im Bündnis Sahra Wagenknecht alles auf die Namenspatronin zugeschnitten. In der immer stärker auf Personalisierung fokussierenden Kommunikation von Politik ist das ein Vorteil. Doch mit der Zeit werden die Landesverbände eigenes Gewicht entwickeln müssen. Womöglich zerfasert dann die klare Botschaft, die jetzt schlicht Wagenknecht heißt. Der Erfolg könnte zudem den Nachteil haben, dass die Partei als Koalitionspartner Kompromisse mittragen muss und schon früh nicht mehr die reine Lehre verkünden kann. Das hat bereits der Linken irgendwann den Nimbus der Protestpartei genommen.