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Analyse: Ist die Osterweiterung der EU gescheitert?

Analyse

Ist die Osterweiterung der EU gescheitert?

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    Die Freiheitsbrücke in Budapest ist in den frühen Morgenstunden in blaues Dämmerlicht getaucht. 	„Dieser Zustand kann nur durch immer mehr politische Unterdrückung bewahrt werden.“
    Die Freiheitsbrücke in Budapest ist in den frühen Morgenstunden in blaues Dämmerlicht getaucht. „Dieser Zustand kann nur durch immer mehr politische Unterdrückung bewahrt werden.“ Foto: Zoltan Balogh, dpa

    Der Blick in die Augen war tief, die Umarmung herzlich. Die Kameras klickten, die Trompeten tönten. Als der damalige deutsche Außenminister Joschka Fischer und sein polnischer Amtskollege Wlodzimierz Cimoszewicz am 1. Mai 2004 symbolisch die Grenze zwischen Frankfurt/Oder und Slubice öffneten, war allen Beteiligten die Bedeutung dieses politischen Aktes klar. Nicht weniger als die endgültige Überwindung der europäischen Teilung wurde in diesen Stunden gefeiert. 15 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs sollte mit der Osterweiterung die Trennung zwischen Osten und Westen aufgehoben werden. Noch in derselben Nacht überquerten hunderte Menschen die Brücke über die Oder und nutzten erstmals das Recht des freien Personenverkehrs.

    Die Länder im Osten Europas hatten laut und vehement gegen die Tür der EU geklopft – und sie wurden erhört. Die meisten der damaligen Beitrittsstaaten haben sich seitdem aus wirtschaftlicher Sicht positiv entwickelt. Und doch ist der Rückblick keineswegs ungetrübt: Auf ein gemeinsames Verständnis, was dieses Europa jenseits von monetären Fördertöpfen verkörpern soll, konnte man sich bis heute nicht einigen. Was womöglich noch schwerer wiegt: Der aktuelle Konflikt mit Belarus offenbart, dass der Westen und seine Werte für so manchen an Anziehungskraft verloren haben und es in Russland einen krawallbereiten Gegenspieler gibt, der massiv für Unruhe innerhalb der Gemeinschaft sorgen kann.

    Viktor Orban testet beständig seine Grenzen aus

    Belarus mit seinen neuneinhalb Millionen Einwohnern könnte die Nahtstelle sein zwischen Ost und West. Doch das Verhältnis zwischen Minsk und Brüssel ist tiefgekühlt. Als einziges osteuropäisches Land ist Belarus noch nicht einmal Mitglied im Europarat – unter anderem, weil das Land sich weigert, von der Vollstreckung der Todesstrafe abzurücken.

    "Hüterin der europäischen Verträge": Das sind die Aufgaben der EU-Kommission

    Die EU-Kommission Die EU-Kommission ist eine Art Kabinett mit jeweils einem Vertreter aus jedem Mitgliedstaat, derzeit also 27.

    Sie schlägt Gesetze vor und überwacht deren Einhaltung in den Mitgliedstaaten.

    Der Kommissionschef repräsentiert zusammen mit anderen Spitzen die EU. Für die Kommission gibt er die politische Linie vor.

    Die Kommissare sind wie ein Kabinett mit verschiedenen Themengebieten.

    Die Kommission legt Entwürfe für Richtlinien und Verordnungen vor, die dann vom EU-Parlament und vom Rat der Mitgliedsländer beraten werden.

    Sie überwacht zudem die Einhaltung von EU-Recht – sie ist sozusagen die Hüterin der europäischen Verträge.

    Der Sitz der Europäischen Kommission ist in Brüssel.

    Die Kommissionspräsidentin verdient rund 25 500 Euro monatlich plus Zulagen.

    Dagegen muten die Probleme mit anderen Ländern geradezu wie Petitessen an – doch für die EU sind sie ein Stachel im eigenen Fleisch. In Polen sorgen die Justizreformen bei der EU-Kommission seit Jahren für gewaltigen Unmut. Immer wieder ruft die Behörde Warschau zum Einlenken auf. Zudem läuft wegen mutmaßlicher Missachtung von EU-Grundwerten ein Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge gegen Polen, das allerdings kaum vorankommt.

    In Ungarn weiß Viktor Orban zwar ganz genau, dass er ohne den europäischen Binnenmarkt und die Gelder aus Brüssel alt aussehen würde, doch das hält ihn nicht davon ab, ständig seine Grenzen auszutesten. Lieber als mit Ursula von der Leyen flirtet der Rechtspopulist mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Für ihn blockiert er gerne wieder die Sanktionsbestrebungen der Europäer gegen Moskau.

    Alexander Lukaschenko (links) begrüßt Wladimir Putin bei einem Treffen im November 2017.
    Alexander Lukaschenko (links) begrüßt Wladimir Putin bei einem Treffen im November 2017. Foto: dpa

    Europa wird damit zum wirtschaftlichen Zweckverband degradiert, zur Wertegemeinschaft hat es die EU für viele Osteuropäer bis heute nicht gebracht. Das zeigte sich in den massiven Auseinandersetzungen in der bis heute ungelösten Asyl- und Flüchtlingspolitik. Das zeigt sich aktuell im Streit, wie weit Klimaschutz gehen soll. Das zeigt sich auch im Verständnis, was einen Rechtsstaat ausmacht. Die immer gleichen Trennlinien lähmen die europäische Politik nachhaltig.

    Ist die EU-Osterweiterung gescheitert?

    Wer sich all dies vor Augen führt, kommt unweigerlich zur bangen Frage: Ist die EU-Osterweiterung gescheitert? So einfach die Frage auch klingt, so schwer ist sie zu beantworten. Dusan Reljic beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Thematik. Er ist Brüsseler Büroleiter der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ (SWP), einer politischen Denkfabrik. Vorschnelle Urteile sind seine Sache nicht – vor allem, weil zwischen den Regierenden und der Gesellschaft zu unterscheiden ist. Einen Abgesang auf die Osterweiterung will er nicht anstimmen. „Aufgrund der Stärke ihres einheitlichen Marktes und der geografischen Nähe ist die EU nicht nur der bevorzugte Wirtschaftspartner der osteuropäischen Staaten“, sagt er. „Nach wie vor hat die EU in der Bevölkerung auch eine starke Anziehungskraft als gesellschaftspolitisches Model.“

    Viktor Orban, Ministerpräsident von Ungarn, gerät immer wieder mit anderen EU-Ländern in Konflikt.
    Viktor Orban, Ministerpräsident von Ungarn, gerät immer wieder mit anderen EU-Ländern in Konflikt. Foto: Ludovic Marin, dpa

    Weil sie auf Rechtsstaatlichkeit und Demokratie basiere, gelte die EU als Alternative zum „politischen Kapitalismus“, wie er sich in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und China entwickelt habe. „Diese Form der Organisation von Gesellschaft und Wirtschaft fußt auf der Verbindung von korrupten Politikern und kriminellen Oligarchen, sodass die Kleptokratie gedeiht – die schamlose persönliche Bereicherung auf Kosten der Allgemeinheit“, sagt Reljic. „Dieser Zustand kann nur durch immer mehr politische Unterdrückung bewahrt werden.“ Die polnische Justizreform, Orbans als Corona-Politik getarnte Restriktionen, Lukaschenkos Luftpiraterie – all das fußt am Ende auf der autokratischen Obsession, dass das eigene Volk in Schach gehalten werden muss.

    Osteuropa ist kein homogener Block

    Und dennoch lässt sich Osteuropa längst nicht als homogener Block mit gleichen Interessen beschreiben. Denn während Lukaschenko Russlands einziger Garant ist, dass Belarus im Einflussbereich des Kreml bleibt und damit ein Bollwerk gegen Nato und EU, ist etwa in Polen und Rumänien genau umgekehrt das Misstrauen groß, dass die EU eben nicht genug gegen die Machtansprüche Wladimir Putins unternimmt. Doch egal, welche Position man einnimmt: Russland ist als Feind oder Freund im Osten allgegenwärtig.

    „Die EU ist eine moderne Erfindung, die zahlreiche und verschiedene Vertragspartner umfasst“, sagt Osteuropa-Experte Dusan Reljic. „Zwischen den Weißrussen und Russen sind die Verbindungen, die manche Außenstehende für Wesenseinheit halten, schon immer vorhanden.“ Allerdings sei wohl den meisten Menschen in Belarus klar, dass sich der Diktator Lukaschenko vor allem deswegen halten kann, weil er vom Autokraten Putin gehalten werde. „Zudem ist das ukrainische Trauerspiel eine stets präsente Warnung an alle, was auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion Russland kann und der Westen - samt der EU – nicht kann: mit Gewalt Tatsachen schaffen“, betont Reljic.

    Womit kann Europa noch überzeugen?

    Womit also soll Europa überhaupt noch überzeugen? Wie will es autoritäre Regierungen dazu bringen, Reformen umzusetzen, die dem eigenen Machtanspruch zuwiderlaufen. Wie bleibt die EU ein Demokratie-Magnet für die Länder im Osten? Wie lässt sich der Einfluss des Kreml eindämmen? „Hoffnungen auf Beitritt hat man, glaube ich, in der Ukraine, Belarus und Moldawien nicht gepflegt, dafür sind die sozio-ökonomischen Unterschiede zu groß“, sagt Dusan Reljic. „Aber doch auch mehr wirtschaftliche Unterstützung und insgesamt mehr Einbindung in alle Formen der europäischen Integration.“

    Die Kluft zwischen der EU und Osteuropa wachse ja auch deshalb, weil innerhalb der EU durch die verschiedenen Entwicklungsfonds, und jüngst auch aufgrund der Wiederaufbaudarlehen der Union, die ökonomisch schwächeren Staaten die Chance erhalten, aufzuholen. Polen hatte 2019 ein Wirtschaftswachstum von 4,5 Prozent, Rumänien von 4,2 Prozent, Ungarn von 4,9 Prozent – vieles davon gefördert von Brüssel oder zumindest unterstützt von europäischen Rahmenbedingungen.

    Auf solche Solidarität könnten die osteuropäischen Länder außerhalb der EU nicht hoffen. „Die Menschen haben das längst verstanden und deswegen wandern sie aus – zum Beispiel Millionen von Ukrainern nach Polen und dann später weiter in den Westen“, sagt Reljic. „Der Wohlstand kommt nicht zu Osteuropäern, also ziehen sie dorthin, wo sie Wohlstand erreichen können. Dieser Aderlass schwächt Osteuropa entscheidend.“ Zurück bleiben die, die frustriert sind von Europa und von alter Stärke träumen.

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