Es war eine historische Entscheidung. Viele Flüchtlinge drängten über Ungarn praktisch unaufhaltsam nach Österreich und Deutschland. Da entschied Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Nacht vom 4. auf den 5. September 2015, die Grenzen zu öffnen. Es war der Beginn einer monatelang anhaltenden Willkommenskultur. Für die einen zeugte der Schritt von humanitärer Größe, für die anderen war es der Anfang vom Kontrollverlust über die Zuwanderung. Zu den Skeptikern gehörte der heutige österreichische Kanzler Sebastian Kurz.
Vor fünf Jahren herrschte in Österreich und Deutschland eine weltweit beachtete Willkommenskultur. Waren sie von Anfang an skeptisch oder als damaliger Integrationsminister auch stolz auf die vielen Helfer?
Sebastian Kurz: Ich war von Anfang an gegen die Politik der offenen Grenzen. Ich war der Meinung, dass Europa hier vollkommen falsch abbiegt und dass es einen Systemwechsel braucht. Ich schätze immer ehrenamtliches Engagement, aber das sollte kein Grund dafür sein, strategisch falsche Entscheidungen zu treffen. Die Politik der offenen Grenzen hat ja nicht nur dazu geführt, dass sich viele Menschen nach Europa auf den Weg gemacht haben und es zu einer massiven Überforderung in weiten Teilen Mitteleuropas gekommen ist. Sie hat auch dazu geführt, dass die Schlepper Unsummen verdient haben und unzählige Menschen im Mittelmeer ertrunken sind. Ich bin froh, dass fünf Jahre nach der Flüchtlingskrise die Politik heute in Europa eine gänzlich andere ist.
Was hat sie damals so anders denken lassen? Viele Politiker hielten offene Grenzen zu diesem Zeitpunkt für nicht falsch.
Kurz: Es ist für Politiker immer verlockend, das zu sagen, was gerade populär ist. Damals waren offene Grenzen populär. Ich bin damals massiv für meine andere Haltung kritisiert worden. Was ich gesagt habe, wurde als rechts, manchmal auch als rechtsradikal abgetan. Heute ist es absolut mehrheitsfähig bei den Regierungschefs in der EU. Ich hatte deshalb eine Sonderstellung, weil ich zuvor jahrelang für die Integration in Österreich zuständig war. Uns war immer klar, der Erfolg der Integration ist auch abhängig von der Zahl der zu Integrierenden. Anders formuliert: Wenn deren Zahl explodiert, dann wird Integration schwierig.
Wurden die Sozialsysteme tatsächlich so belastet, wie sie am Anfang befürchtet haben?
Kurz: In Österreich hat es seit 2015 rund 200 000 Asylanträge gegeben. Über 100.000 Menschen haben einen positiven Bescheid bekommen. Das ist eine Zahl in der Größenordnung der österreichischen Landeshauptstadt von Kärnten, Klagenfurt. 46 Prozent der Asylberechtigten sind im Arbeitsmarkt integriert, aber bei vielen anderen ist das noch nicht gelungen. Und natürlich ändert so eine Form der Massenmigration auch eine Gesellschaft. Und das in einigen Bereichen auf eine problematische Art und Weise. Wir haben es teils mit dem Phänomen eines importierten Antisemitismus zu tun. Und auch die Wertevermittlung ist schwierig.
Das legendäre Selfie der Kanzlerin mit Migranten. Aus ihrer Sicht ein Fehler?
Kurz: Nein, das soll man nicht überbewerten. Ich glaube nicht, dass eine Wortmeldung, ein Foto alleine entscheidend sind. Es waren viele Entscheidungen, die ganz anders waren als heute. Heute haben wir mit Kyriakos Mitsotakis in Griechenland einen Ministerpräsidenten, der seine Außengrenzen schützt. Heute investiert die EU Geld, um die Grenzen gemeinsam zu sichern. Heute gibt es klare Regeln für NGOs (Anm.: Nicht-Regierungs-Organisationen) im Mittelmeer. Heute hat sich die Politik vieler Staaten in der EU dramatisch verändert. Damals ist das Geld investiert worden, um Menschen möglichst schnell von Italien oder Griechenland nach Mitteleuropa zu transportieren.
Wie beurteilen sie die deutschen Ideen zu einem Neustart der EU-Asylpolitik mit besser gemanagten Asylzentren an der Außengrenze und mit einer Vorsortierung der Migranten nach Erfolgsaussicht?
Kurz: Ich unterstütze jedes Konzept, das eine stärkere Sicherung der Außengrenzen vorsieht. Was ich für problematisch erachte, ist, wenn man für Menschen Anreize schafft, dass sie Schlepper bezahlen und für den Weg nach Europa ihr Leben im Mittelmeer riskieren. Daher bin ich immer ein Verfechter der Hilfe vor Ort, wo Österreich einen substanziellen Beitrag leistet. Wenn Staaten bereit sind, Flüchtlinge aufzunehmen, dann ist der beste Weg dafür, das mittels Resettlement-Programmen (Anm.: Umsiedlung schutzbedürftiger Flüchtlinge) direkt aus Krisengebieten zu machen.
Das angedachte Konzept würde, wenn auch in geringerem Umfang, erneut eine Verteilung von Flüchtlingen bedeuten. Sie lehnen das weiter ab?
Kurz: Ich halte das für nicht realistisch. Ich glaube, dass die Verteilung auf Europa allein schon deshalb nicht funktioniert, weil die Mehrheit der Staaten skeptisch oder dagegen ist. Ich halte zwei Themen für wesentlich problematischer. Da ist der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, der bereit ist, Migranten als Waffe einzusetzen, um die EU zu erpressen. Das dürfen wir nicht zulassen. Und zum zweiten, wenn wir auf die zentrale Mittelmeerroute blicken, sehen wir, dass sich dort mehr und mehr Menschen aus wirtschaftlichen Gründen vor allem aus Tunesien - wegen der dortigen coronabedingten Krise - auf den Weg nach Italien machen. Das sind somit keine wirklichen Flüchtlinge, sondern Wirtschaftsmigranten.
Es werden weiterhin Menschen kommen, in welcher Zahl auch immer. Wie stellen sie sich dann einen Plan vor?
Kurz: Wir sind der Meinung, sobald sich Menschen illegal auf den Weg nach Europa machen, müssen sie an der Außengrenze gestoppt, versorgt und in sichere Herkunfts- oder Transitländer zurückgestellt werden. Wenn ein Staat Flüchtlinge aufnehmen will, dann sollte dies via Resettlement erfolgen. Den Umfang kann jeder Staat für sich entscheiden. Es ist zudem unsere christlich-soziale Verantwortung, uns noch stärker in Afrika zu engagieren. Dort eine positive wirtschaftliche Entwicklung sowie den Kampf gegen Korruption und Misswirtschaft zu unterstützen, halte ich für eine zentrale Aufgabe.
Das Grundrecht auf Asyl in Deutschland
In Deutschland ist das Recht auf Asyl im Grundgesetz verankert. Festgelegt ist dies in Artikel 16a. Dort heißt es in Absatz eins: «Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.» Tatsächlich wird das Asylrecht in der Bundesrepublik damit - anders als in vielen anderen Staaten - nicht allein aufgrund der völkerrechtlichen Verpflichtung aus der Genfer Flüchtlingskonvention gewährt, sondern hat Verfassungsrang.
Mit dem sogenannten Asylkompromiss von 1993 wurde dieses Grundrecht allerdings deutlich eingeschränkt. Unter dem Eindruck stark gestiegener Asylbewerberzahlen vor allem aus dem damaligen Jugoslawien setzten Union, FDP und SPD damals eine Grundgesetzänderung durch. Eine Folge: Wer über einen sicheren Drittstaat einreist, konnte sich seither nicht mehr auf das Asylgrundrecht berufen.
In der Praxis bekommen Menschen, die heute vor Krieg und Krisen nach Deutschland fliehen, nur selten eine Asylberechtigung nach Artikel 16a des Grundgesetzes. Die meisten erhalten Flüchtlingsschutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention oder einen eingeschränkten (subsidiären) Schutz. Das gilt für Menschen, die nicht als politisch verfolgt gelten, aber trotzdem bleiben dürfen, weil ihnen in der Heimat «ernsthafter Schaden» droht - wie Folter, Todesstrafe oder willkürliche Gewalt in einem bewaffneten Konflikt.
Die Hilfe vor Ort kann aber in einer ersten Phase zu einer vermehrten Migration führen, weil dank mehr Wohlstand Geld für Schlepper da ist.
Kurz: Entwicklungszusammenarbeit und eine positive Dynamik in Afrika werden möglicherweise nicht automatisch dazu führen, dass sich weniger Menschen auf den Weg machen. Das funktioniert vor allem dadurch, dass wir unsere Außengrenzen schützen und einen aktiven Kampf gegen Schlepper führen. Aber ich halte es aus den genannten Gründen der christlich-sozialen Verantwortung für richtig, dort einen Beitrag zu leisten. Es ist das richtige Konzept. Wer aber glaubt, dass das die alleinige Antwort auf die Migration sein kann, der verkennt die Lage.
Zur Person: Der 34-jährige Sebastian Kurz ist seit spätestens 2017 das Aushängeschild der konservativen ÖVP in Österreich. Damals übernahm er den Vorsitz der kriselnden Partei und hat sie seitdem zu zahlreichen Wahlerfolgen geführt. Er war Regierungschef in einer ÖVP-FPÖ-Koalition und ist seit Anfang 2020 Chef des in Österreich ersten Bündnisses der ÖVP mit den Grünen. (Matthias Röder, dpa)
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