Herr Nuspliger, sind die Schweizer froh, dass Sie das „Endspiel um Europa“ nur vom Spielfeldrand aus beobachten müssen?
Niklaus Nuspliger: Es stimmt schon, wir sind nicht so direkt betroffen. Aber die Schweizer interessieren sich schon sehr dafür, was mit diesem Europa passiert, mit dem sie ja in vielerlei Hinsicht verbunden sind. Kommt es zum Beispiel wirklich zum Schulterschluss von Nationalisten? Manche Schweizer hoffen sogar darauf, weil sie glauben, das würde mehr Verständnis für die Sonderrolle unseres Landes als „gallisches Dorf“ in Europa erzeugen. Ich halte das für eine Illusion.
Haben einzelne EU-Länder überhaupt eine Chance auf der Weltbühne?
Nuspliger: Die USA, Russland oder China nehmen keine große Rücksicht mehr auf andere. In einer Welt, in der nur noch das Recht des Stärkeren gilt, werden die europäischen Länder nur dann eine Rolle spielen, wenn sie gemeinsam auftreten.
Davon sind sie weiter entfernt als je zuvor. Sie sprechen ja nicht einmal mit einer Stimme, wenn es um ihre Grundwerte geht. „Nicht überall, wo Demokratie drauf steht, ist Demokratie drin“, schreiben Sie in Ihrem Buch.
Nuspliger: In Ländern wie Ungarn werden demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien nach und nach aufgegeben. Das ist sehr gefährlich. Heute werden Regierungen ja nicht mehr durch einen großen Staatsstreich entmachtet – Demokratien sterben schleichend.
Müssen wir uns damit arrangieren, dass es in der EU nicht nur lupenreine Demokraten gibt?
Nuspliger: Jedes Land hat seine eigene politische Kultur und Geschichte, und jedes Land definiert Demokratie ein bisschen anders. Das darf aber nicht dazu führen, den Abbau demokratischer Mindeststandards zu relativieren. Ungarns Premier Viktor Orbán sieht seine „illiberale Demokratie“ explizit als Vorbild für andere.
Hat die Demokratie ihre besten Zeiten hinter sich?
Nuspliger: Sie ist jedenfalls weltweit auf dem Rückzug. Viele Menschen glauben nicht mehr, dass Politik für das Volk gemacht wird. Es ist aber nicht zu spät, die Demokratie zu erneuern. Sie muss Möglichkeiten finden, die Menschen direkter und öfter zu beteiligen als nur alle vier oder fünf Jahre, wenn gewählt wird.
Der Brexit zeigt, was populistische Politik bedeutet. In den Umfragen zur Europawahl liegt die Brexit-Partei auf der Insel trotzdem vorne. Schreckt selbst das Chaos die Wähler nicht ab?
Nuspliger: Doch – allerdings nur in den anderen Ländern. Dort haben praktisch alle populistischen Parteien die Forderung nach einem EU-Austritt ihres Landes gestrichen.
In sozialen Netzwerken geben Populisten den Ton an. Müssen die etablierten Parteien hier dagegenhalten?
Nuspliger: Unbedingt! Demokratie findet heute eben auch im digitalen Raum statt. Für Populisten oder Fake-News-Kampagnen aus Russland ist die atemlose Welt der sozialen Medien ideal geeignet, um ihre Schwarz-Weiß-Thesen zu verbreiten. Dem muss man etwas entgegensetzen. Die Digitalisierung ist ja auch eine Chance. Man muss es nur richtig machen.
Ist die Online-Umfrage der Europäischen Union im vergangenen Jahr zur Abschaffung der Zeitumstellung ein gutes Beispiel dafür?
Nuspliger: Leider nein. Die Idee war gut, die Umsetzung nicht. Einerseits wurden da die neuen digitalen Möglichkeiten genutzt. Aber Demokratie erfordert transparente und klare Verfahren. Und hier war ja anfangs gar nicht klar, dass dieses Votum bindend sein würde. Erst am Ende hat sich die EU-Kommission das Ergebnis angeschaut und es quasi nachträglich für verbindlich erklärt.
In ihrer Angst um die Demokratie neigen Pro-Europäer dazu, sich den Europa-Feinden moralisch überlegen zu fühlen. Ist das wirklich hilfreich?
Nuspliger: Ich halte es für eine der größten Gefahren für die Demokratie, wenn man angesichts der Erfolge von Populisten zu dem Schluss kommt, dass man der Bevölkerung nicht mehr trauen kann. Dass die Menschen manipulierbar sind und vor sich selbst geschützt werden müssen. Das endet schnell in einer Technokratie, in der die wichtigsten Entscheidungen zwar vermeintlich im Sinne des Volkes getroffen werden – aber eben nicht mehr in der politischen Arena, sondern durch Experten in Beamtenstuben und in Hinterzimmern.
Dazu passt der Streit, ob der Spitzenkandidat, der nach der Europawahl die stärkste Fraktion führt, Kommissionspräsident werden soll. Glauben Sie, Manfred Weber macht das Rennen?
Nuspliger: Eher nicht. Seine Fraktion dürfte zwar die meisten Sitze bekommen, doch wird er nicht nur auf die Unterstützung von Sozialdemokraten und Liberalen angewiesen sein, sondern auch auf den Segen der Staats- und Regierungschefs. Und da gibt es große Vorbehalte.
Auf wen würden Sie wetten?
Nuspliger: Ich könnte mir vorstellen, dass es zu einer Pattsituation kommt und am Ende der Franzose Michel Barnier als Kompromisskandidat aus dem Hut gezaubert wird. Das wäre dann allerdings das Ende des Spitzenkandidaten-Modells und würde der EU ein neues Glaubwürdigkeitsproblem einbringen. Interview: Michael Stifter
Zur Person: Niklaus Nuspliger, 38, stammt aus Bern. Er arbeitet für die Neue Zürcher Zeitung als Brüssel-Korrespondent. Sein Buch „Europa zwischen Populisten-Diktatur und Bürokraten-Herrschaft“ ist im Verlag NZZ Libro erschienen.