So viel Emotionalität war bei Kanzlerin Angela Merkel selbst auf dem Höhepunkt der Flüchtlingsbewegung nicht zu sehen. Im Corona-Gespräch mit Müttern und Vätern präsentierte sich die CDU-Politikerin vor kurzem tief betroffen und den Tränen nahe. Auch Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) - zu Beginn der Pandemie ein strenger, geradezu schroffer Macher - zeigt auf einmal Gefühle, gesteht Fehler ein und entschuldigt sich. Beim kühlen Hanseaten Olaf Scholz (SPD) fallen gar alle Schranken, der Vizekanzler richtet deftige Schimpfworte an die Adresse von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Eine Corona-Pandemie, zwei Gesichter - warum bloß präsentieren sich Spitzenpolitiker im Kontext der Pandemie neuerdings eher emotional?
Die Corona-Pandemie hinterlässt Spuren
Die schlimme Entwicklung der Corona-Pandemie hinterlässt Spuren. Die vielen Toten, die Kranken und Einschränkungen gehen auch Politikern nahe. Doch damit ist die neue Empathie allein nicht zu erklären. Zumal das Spitzenpersonal in den Schaltzentralen ganz anders geschult ist und viel mehr auf seine Außenwirkung achtet, als andere es tun.
„Das Handeln der Politik gerade am Anfang der Pandemie war allzu menschlich. Aufgrund mangelnder Fakten und einer nie dagewesenen Situation wurde das Naheliegende in die Wege geleitet“, erklärt Sammy Stauch, der zusammen mit Tatjana Ditko die Deutsche Rednerschule in Berlin leitet. Das Naheliegende war die Einschränkung von Kontakten. Das konnte schnell umgesetzt werden, Bund und Länder hatten zudem Glück, weil die Einschränkungen zwar von einzelnen Gruppen kritisiert, von der Breite der Bevölkerung aber mitgetragen wurden.
Merkel sagt in der Corona-Krise, wo es langgeht
Die überwiegende Bereitschaft, die harten Corona-Maßnahmen mitzutragen, rührt nach Einschätzung von Stauch daher, dass Menschen von komplexen Situationen schnell überfordert sind. „Sie denken in solchen Fällen eher über konkrete Handlungen nach als über abstrakte Ziele“, sagt Stauch, der unter anderem ein Sozialwissenschaften und Kommunikation studiert hat. Ditko lenkt in diesem Zusammenhang den Blick auf die Mediennutzung, die in Corona-Zeiten stark zugenommen hat. Medienwissenschaftler nennen das den Uses-and-Gratifications-Approach: Menschen wenden sich Medieninhalten immer dann intensiv zu, wenn sie ihren Interessen, Bedürfnissen und Erwartungen entsprechen.
Die Corona-Politik wurde vor allem von Kanzlerin Merkel, ihrem Kabinett sowie den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten bestimmt. Auf einen harten Lockdown folgten Lockerungen, darauf wieder Einschränkungen. Das zieht sich durchs letzte Corona-Jahr und dürfte am Mittwoch seine Fortsetzung finden, wenn Bund und Länder erneut beraten. Jede weitere Entscheidung baut auf den bisherigen auf und setzt den eingeschlagenen Kurs fort. Positive Effekte wurden dabei eben diesen Entscheidungen zugesprochen. „Negative hingegen wurden tendenziell ausgeblendet, um die Widerspruchsfreiheit des Gesamtbildes zu wahren“, erklären die Kommunikationsexperten.
Auch Ministerpräsidenten sind nur Menschen
Stauch und Ditko halten solch ein Verhalten für allzu menschlich. „Schließlich will jeder ein positives, widerspruchsfreies Bild von sich nach außen tragen“, sagt Ditko, die unter anderem einen Abschluss in Unternehmenskommunikation und Rhetorik hat, und ergänzt: „Das gilt gleichsam für soziale Gruppen. Wie zum Beispiel für eine Gruppe von Ministerpräsidenten.“
Doch das Blatt wendet sich. Nach einem Jahr Corona haben die Menschen mehr Informationen über das Corona-Virus. Die Einschränkungen der Freiheitsrechte werden jetzt differenzierter diskutiert als zum Ausbruch der Pandemie. Auch, weil dabei mit den Fällen von Erwerbslosigkeit oder aufgeschobenen Operationen Erfahrungen einfließen, die erst nach und nach gemacht wurden. Würden die politischen Entscheider bei den Corona-Maßnahmen jetzt aber Zugeständnisse machen, wäre das kein guter Weg, sagen Ditko und Stauch. Die Legitimation aller bisherigen Entscheidungen würde schnell angezweifelt werden.
Umfragewerte spiegeln die Akzeptanz öffentlicher Gefühlsausbrüche
„Andererseits sind Spitzenpolitiker gezwungen, auf wachsende Kritik und offensichtliche Widersprüche ihrer Politik einzugehen“, erklärt Stauch. „Daher bleibt nur ein Ausweg: Weniger autoritäre Appelle. Dafür das Signalisieren von Verständnis – ohne aber den eingeschlagenen Weg zu verlassen.“
Gut möglich also, dass die öffentlichen Gefühlsausbrüche des politischen Spitzenpersonals noch zunehmen werden. Aber auch dafür gibt es eine Grenze, nämlich die Umfragewerte. „Das dürfte so lange funktionieren“, sagen Ditko und Stauch, „wie die Gesellschaftsmehrheit das akzeptiert“.
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