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Interview mit Migrationsexperte Gerald Knaus: Wie können wir Zuwanderung begrenzen?

Migration

Wie können wir Zuwanderung kontrollieren, Herr Knaus?

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    Gerald Knaus ist Soziologe und Migrationsforscher.  Er berät unter anderem die Bundesregierung in Fragen der Zuwanderungssteuerung.
    Gerald Knaus ist Soziologe und Migrationsforscher. Er berät unter anderem die Bundesregierung in Fragen der Zuwanderungssteuerung. Foto: Dominik Butzmann, Imago

    Herr Knaus, wir diskutieren seit Jahren, eigentlich Jahrzehnten darüber, wie wir mit dem Thema Migration umgehen. Die Zahl jener, die ihre Heimat verlassen, ist anhaltend groß, in den Aufnahmeländern kippt die Stimmung selbst bei den Wohlwollenden. Wie beurteilen Sie die Lage?
    GERALD KNAUS: Die Ängste, die mit der irregulären Migration verbunden sind, sind dramatisch gewachsen. Das Bild, dass unsere Gesellschaft die Kontrolle verliert, hat sich festgesetzt. Darauf muss die Politik Antworten geben. Radikale Parteien versprechen, Migration durch das Ignorieren und Aussetzen grundlegender Menschenrechte von Asylsuchenden und Migranten mit Gewalt zu reduzieren. Das dürfen wir nicht zulassen. Das Asylrecht zu verteidigen, wird die große Herausforderung sein. Natürlich wäre es vermessen zu sagen, wir müssten nur einen Knopf drücken und dann wird alles besser. Aber es gibt Dinge, die man machen kann – und zwar, ohne die Menschenrechte zu verletzen. Wir müssen die Migration nämlich auch im Sinne jener regulieren, die sich auf die Flucht begeben. Wir haben an der europäischen Außengrenze eine Opferbilanz wie in einem Krieg. 

    Glauben Sie wirklich daran, dass die Politik das schaffen kann?
    KNAUS: Es steht so viel auf dem Spiel. Ein Viktor Orban in Ungarn will nicht nur den Flüchtlingsschutz abschaffen, sondern die Idee der universellen Menschenrechte. 

    Die EU hat sich auf einen Migrationspakt geeinigt, für den sie sich unermüdlich selbst lobt. Reicht der nicht?
    KNAUS: Das ist eine Reform, die nichts verändern wird. Das müsste auch allen klar sein. Weder Deutschland noch Spanien noch Italien schaffen es derzeit, Menschen in großer Zahl abzuschieben. Der Pakt wird daran nichts ändern. Die Menschen werden künftig zwölf Wochen in Asylzentren festgehalten – aber sie werden in Italien sein. Und Italien wird auch künftig kein Interesse dran haben, die Leute an der Weiterreise in Richtung Deutschland zu hindern. Auch eine Verteilung der Migranten wird sich nicht erzwingen lassen. Die EU hat in meinen Augen eine unrealistische und deshalb ganz gefährliche Erwartung geweckt.

    Sie waren wesentlich am EU-Türkei-Abkommen beteiligt. Wie beurteilen Sie den Erfolg?
    KNAUS: Es hat dafür gesorgt, dass deutlich weniger Menschen in die EU kamen. Die Zahlen sind klar: In den ersten drei Monaten des Jahres 2016 kamen 151.000 Menschen irregulär in Booten in Griechenland an. Ende März 2016 trat das Abkommen in Kraft. Im Mai, Juni und Juli kamen nur noch 5200 Menschen an – obwohl die Bedingungen durch das warme Wetter sogar besser geworden waren. Auch die Zahl derer, die auf der Überfahrt ihr Leben verloren, ging zurück. In den ersten drei Monaten 2016 starben 366 Menschen in der Ägäis, im zweiten Quartal nur noch sieben. 

    Was lernen wir heute daraus?
    KNAUS: Einen ähnlichen Effekt könnten wir erzielen, wenn wir durch eine Drittstaaten-Regelung die irreguläre Migration aus Afrika verringern könnten. Hätte es im Jahr 2023 für die Migrationsrouten nach Spanien und Italien Abkommen gegeben mit einer der EU-Türkeierklärung ähnlichen Wirkung, dann wäre die Zahl der irregulär in diese beiden Länder Kommenden nicht 216.000 sondern 6700 gewesen. Und die Zahl der Toten wäre nicht 3.900, sondern 140 gewesen. Effektive sichere Drittstaatsabkommen hätten im Jahr 2023 nur auf diesen beiden Routen mehr als 3700 Leben retten können. 

    Kritiker sagen, dass Abkommen mit Drittstaaten vor allem eines sind: teuer …
    KNAUS: Die Kosten sind kein gutes Argument gegen die Drittstaatenabkommen. Es geht auch um Menschenleben. Es ist ein moralischer Imperativ, mit Nachdruck an solchen Abkommen zu arbeiten. Genauso irreführend ist übrigens auch das Argument, dass es gar keine Staaten gäbe, die solche Abkommen abschließen wollen würden. Warum sollte es nicht gelingen, Partnerländer zu finden, wenn diese erhebliche Finanzhilfen, Visaerleichterungen für ihre Staatsbürger und möglicherweise Kontingente für legale Arbeitsmigration erhalten würden? Was wir brauchen, sind ernsthafte Verhandlungen und attraktive Angebote. Und natürlich ist für die Umsetzung entscheidend: Wer die tatsächlichen Gegebenheiten in den Partnerländern ignoriert, muss damit rechnen, dass europäische Gerichte Überstellungen von Asylsuchenden zu Recht stoppen. Es reicht nicht aus, Menschen einfach in ein anderes Land zu schicken – es muss sichergestellt werden, dass sie dort faire Asylverfahren und menschenwürdige Lebensbedingungen vorfinden. Alles andere ist unmoralische Politik und nicht umsetzbar.

    Was ist denn geworden mit der Humanität? Was ist mit unseren Werten?
    KNAUS: Brutalität gegen Migranten gab und gibt es auch in Europa. Die Welt sieht mit Entsetzen die Bilder von Europas tödlichen und inhumanen Grenzen. Humane Bedingungen bei der Aufnahme von Flüchtlingen und Zugang zu Schutz gab und gibt es wiederum auch in Staaten in Afrika. Entscheidend ist, hier wie dort, immer der politische Wille der Regierenden. Und wie es läuft, wenn der fehlt, sehen wir in Libyen. Mit der dortigen Regierung gibt es die Einigung, dass Flüchtlingsboote an der Überfahrt nach Europa gehindert werden. Dafür werden Menschenrechtsverletzungen in Kauf genommen. Hier interessiert man sich in der EU seit 2017 nur wenig dafür, was passiert. In libyschen Lagern werden aufgegriffene Migranten sehr schlecht behandelt. Im Interesse der Menschenrechte und des Flüchtlingsschutzes ist es daher wichtig, sich dafür einzusetzen, dass es weltweit mehr Abkommen nur mit sicheren Staaten für Asylverfahren und die Aufnahme von Flüchtlingen gibt.

    In Deutschland allein haben im vergangenen Jahr mehr als 350.000 Menschen einen Asylantrag gestellt. Welchen Effekt erwarten Sie sich von einer Drittstaaten-Regelung?
    KNAUS: Es kann es nie darum gehen Hunderttausende in sichere Drittstaaten zu bringen. Kein Drittstaat würde dies akzeptieren. Kein EU-Land würde dies schaffen. Bei sicheren Drittstaatsabkommen geht es darum, irreguläre Migration in die EU insgesamt ab Stichtagen wie bei der EU-Türkei-Erklärung von 2016 zu reduzieren. Und es geht um ein Zeichen an die Bevölkerung. Deutschland ist seit Jahren weltweit eine der wichtigsten Stützen des globalen Flüchtlingsschutzes. Es ist von globaler Bedeutung, dass in Deutschland auch in Zukunft ein breiter politischer und demokratischer Konsens für die Werte der Flüchtlings- und Europäischen Menschenrechtskonvention erhalten bleibt. 

    Zur Person

    Gerald Knaus ist Gründungsdirektor der Denkfabrik European Stability Initiative (ESI). Der Soziologe ist einer der wichtigsten Migrationsexperten. Er berät unter anderem die Bundesregierung in Fragen der Zuwanderungssteuerung. Knaus ist Teil des Sachverständigengremiums, das sich unter anderem mit dem Thema sichere Drittstaaten beschäftigt - der Österreicher befürwortet das Modell. 

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