Jens Spahn war sich seiner Sache sicher. Mit dem Wissen von heute, beteuerte der Gesundheitsminister im September, müsste kein Friseur und kein Einzelhändler mehr schließen und kein Pflegeheim mehr die Besucher aussperren. Die Politik habe seit dem Ausbruch der Pandemie schließlich eine Menge dazugelernt. Hauptsache, die Leute tragen ihre Masken.
Keine vier Monate später hält auch Spahn einen zweiten harten Lockdown für alternativlos. Da die Deutschen in dieser Zeit nicht zu einem Volk von Maskenverweigerern und Hygienemuffeln mutiert sind, kann der Lerneffekt aus dem ersten Lockdown also nicht allzu groß gewesen sein. Im Prinzip reagieren Bund und Länder auf die hohen Infektionszahlen genauso reflexhaft wie im Frühjahr: Jede Tür, die geschlossen bleibt, mindert das Ansteckungsrisiko, jeder Kontakt, der unterbunden wird, kann eine Intensivstation entlasten.
Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit, ein Eckpfeiler unseres Rechtssystems, blenden die Verfechter einer möglichst rigiden Vorgehensweise dabei genauso aus wie die ökonomischen Folgen dieser Politik. Mit staatlichen Finanzspritzen wie den November- und Dezemberhilfen lässt sich eine Volkswirtschaft nicht lange über Wasser halten.
Andere Corona-Maßnahmen: In Tübingen fahren Senioren billig mit dem Taxi
Umso wichtiger wäre es, der Wirtschaft auch jetzt noch Luft zum Atmen zu lassen und gezielter die Risikogruppen zu schützen. Wie das geht, zeigt das Beispiel Tübingen: Menschen jenseits der 60 müssen dort nicht mehr mit Bussen und Bahnen fahren, sondern können sich zum Nahverkehrstarif ein Taxi rufen, das Gesundheitsamt verteilt in großem Stil die deutlich besseren FFP-2-Masken an Senioren – und in den Supermärkten der Stadt können ältere Kunden dank spezieller Einkaufszeiten mit weniger Gedränge an den Vormittagen vergleichsweise sicher einkaufen.
Gepaart mit den üblichen Kontaktbeschränkungen und Abstandsregeln sowie einer konsequenten Teststrategie in Heimen und mobilen Pflegediensten hat Oberbürgermeister Boris Palmer die Lage so zu überschaubaren Kosten von bislang rund 500.000 Euro besser im Griff als viele andere Städte.
Die Corona-App hat ein Problem: Den Datenschutz
In Bund und Land dagegen ist die Politik längst eine Gefangene ihrer eigenen Zögerlichkeit. Sie regiert, salopp gesagt, der Pandemie hinterher.
Warum, zum Beispiel, hat sie erst eine Lockerung der Kontaktsperren für die Zeit zwischen den Jahren versprochen, um sie kurz darauf wieder infrage zu stellen? Warum werden FFP-2-Masken an ältere Menschen und Menschen mit Vorerkrankungen erst jetzt flächendeckend verteilt? Warum erschwert ein falsch verstandener Datenschutz bei der Corona-App noch immer das konsequente Verfolgen von Kontakten? Und warum kann ein Impfzentrum wie das in Augsburg am Anfang nur 250 Menschen am Tag impfen? In den USA verspricht Joe Biden 100 Millionen Impfungen in den ersten 100 Tagen seiner Präsidentschaft. In Deutschland dagegen vertröstet der Gesundheitsminister die Impfwilligen, die nicht zu einer Risikogruppe oder einer besonders sensiblen Berufsgruppe gehören, schon jetzt auf Mitte nächsten Jahres.
Viele Anti-Corona-Maßnahmen gründen auf dem Prinzip Hoffnung
Murrend, am Ende aber doch loyal hat die große Mehrheit der Menschen die bisherigen Maßnahmen im Kampf gegen Corona mitgetragen – auch wenn vieles davon auf dem Prinzip Hoffnung gegründet war. Der Plan, Deutschland noch einmal dichtzumachen, folgt dieser Logik von Versuch und Irrtum. Im Bemühen, alles möglichst pauschal und einheitlich zu regeln, war für Lösungen wie den Tübinger Weg bisher eben nur in Tübingen Platz. Entschieden aber wird der Kampf gegen Corona am Ende nicht in Friseursalons oder im Einzelhandel, sondern in den Pflegeheimen und Impfstationen.
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