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Interview: Historiker: "Der 3. Oktober spricht nur den Kopf an, nicht das Herz"

Interview

Historiker: "Der 3. Oktober spricht nur den Kopf an, nicht das Herz"

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    Könnte ein besseres Datum für einen nationalen Gedenktag sein: der 9. November. An diesem Tag fiel 1990 in Berlin die Mauer.
    Könnte ein besseres Datum für einen nationalen Gedenktag sein: der 9. November. An diesem Tag fiel 1990 in Berlin die Mauer. Foto: Johann Stoll

    Herr Kowalczuk, mit welchen Erwartungen haben Sie vor 30 Jahren den Tag der Wiedervereinigung begangen?

    Ilko-Sascha Kowalczuk: Ich war damals 23 und wohnte seit zwei Jahren in einer besetzten Wohnung in Berlin-Prenzlauer Berg. Die Revolution von 1989 habe ich als einen Akt der Selbstbefreiung erlebt. Die kam nicht nur über mich, sondern ich war Teil dieses revolutionären Prozesses. Für mich war der wichtigste Tag der 18. März 1990, der Tag der ersten freien Wahl zur Volkskammer, weil damals die Selbstermächtigung des Volkes in strukturelle Bahnen gelenkt worden ist.

    Mit dem Ergebnis, dass die Allianz für Deutschland rund um die Ost-CDU, die für eine schnelle Einheit war, die Wahl deutlich gewonnen hat.

    Kowalczuk: Ich hab’ damals für Bündnis 90 gestimmt, weil ich gehofft hatte, dass es zu einer Vereinigung auf Augenhöhe kommt. Das hieß für mich: Die DDR stellt sich einem Prozess der Selbstdemokratisierung. Das zweite wichtige Datum war der 1. Juli 1990, die Einführung der D-Mark in der DDR. An diesem Tag änderte sich für alle Ostdeutschen alles und für die Westdeutschen nichts.

    Ihr Buch trägt den Titel „Die Übernahme“. Das klingt wie eine Fusion von Wirtschaftsunternehmen, bei der der Große den Kleinen schluckt.

    Kowalczuk: „Die Übergabe“ als Titel trifft es wohl besser. Die Ostdeutschen gingen in das Jahr 1989 ohne jede Erwartung. Die meisten lebten in Lethargie, viele versuchten, das Land zu verlassen, und einige wenige wollten es ändern. Dann fiel die Mauer und über Nacht entstand eine riesige Erwartungshaltung …

     … die sich durch Helmut Kohls Versprechen noch potenzierte.

    Kowalczuk: Das schnelle Vorgehen der Bundesregierung war ohne Alternative, aber es verstärkte eine paternalistische Sehnsucht der Ostdeutschen: Nimm uns an die Hand und führe uns ins Wirtschaftswunderland. Das schürte gewaltige Hoffnungen mit der Konsequenz: Man hatte sich getäuscht und fühlte sich bald enttäuscht.

    Als Symbol für diese Enttäuschungen steht die Treuhand, die volkseigene Betriebe der DDR privatisieren sollte.

    Kowalczuk: Die Treuhand hat ausgeführt, was die Politik ihr vorgegeben hat. Die Alternativen lassen sich in Ungarn oder in Russland beobachten – oligarchische Strukturen in der Wirtschaft, autoritäre Verhältnisse in der Politik. Bei der Transformation in Ostdeutschland herrschte das Gefühl, wir setzen auf radikale Privatisierung. Dafür standen Helmut Kohl und Theo Waigel eigentlich gar nicht. Aber plötzlich war der Osten Deutschlands das Experimentierfeld für das neue neoliberale Dogma, das von Großbritannien auf Europa übergriff. Die Idee war, man schafft ein paar Leuchttürme und darum herum etabliert sich ein Mittelstand. Alles, was hinten runterfällt, sollte der Sozialstaat einsammeln. Das Problem war: Diese Unternehmergesellschaft gab es im paternalistisch geprägten Osten nicht und der alte bundesrepublikanische Sozialstaat erwies sich bald auch im Westen als überfordert, wie die Hartzreformen zeigen sollten.

    Im Osten rutschten nach 1990 viele Betriebe in die Pleite. Welche Folge hatte dieser Verlust der Arbeitsgesellschaft für die Menschen?

    Kowalczuk: Sehr große. Der Betrieb war in der DDR mehr als eine Arbeitsstätte. Um den Arbeitsplatz gruppierte sich das gesamte gesellschaftliche Leben der Menschen, das prägte ihre Mentalitäten. Das brach alles über Nacht zusammen. Die Menschen verloren mit dem Arbeitsplatz ihre kulturelle Position. Und das war nicht mehr zurückzugeben.

    Sie schildern das Gefühl vieler Ostdeutscher als Bürger zweiter Klasse. Worin liegt dieses Gefühl des Nicht-Anerkanntseins begründet?

    Kowalczuk: Das hat etwas mit dem Verlust der kulturellen Position zu tun. Aber auch mit dem Elitentransfer. Sparkassendirektoren, Lehrer, Journalisten, Hochschuldozenten – es kamen ganz viele in den Osten, um zu helfen. Aber diese Helfer kamen alle als Vorgesetzte. Das prägte eine Kultur zwischen West und Ost von oben nach unten. Die Alternative Tandemlösungen aus Ost und West wurde nicht ausprobiert.

    Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk sagt: "Die Revolution von 1989 habe ich als einen Akt der Selbstbefreiung erlebt."
    Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk sagt: "Die Revolution von 1989 habe ich als einen Akt der Selbstbefreiung erlebt." Foto: Arno Burgi, dpa (Archiv)

    Würden Sie denn eine Ostquote befürworten?

    Kowalczuk: Nein. Ich befürworte eine Frauenquote auf vielen Gebieten oder eine Quote für People of Colour, weil sich das objektivieren lässt. Aber wer ist ein Ostdeutscher? Alle, die noch 1989 in der DDR gelebt haben. Aber was ist mit denen, die schon vorher ausreisten?! Alle, die östlich der Elbe geboren sind. Und was ist mit denen, die nach 1990 in den Osten kamen?! Das lässt sich nicht verobjektivieren.

    Frankreich feiert an seinem Nationalfeiertag die Freiheit, die USA das Streben nach Glück, Deutschland bleibt der blanke Wert der Einheit: Warum tun sich die Deutschen so schwer mit diesem Feiertag?

    Kowalczuk: Wir haben den falschen Feiertag. Wir feiern am 3. Oktober das staatliche Handeln großer Männer, die in einer historischen Stunde das Richtige getan haben. Aber die Revolution von 1989 in der DDR, aber auch in anderen osteuropäischen Staaten war eben gerade kein Ausdruck staatlichen Handelns, sondern ein gesellschaftlicher Ausbruch. Das lässt sich mit so einem technokratischen Tag wie dem 3. Oktober schwer würdigen. Dieses Datum spricht nur den Kopf an, nicht das Herz. Allen, die jünger als 40 Jahre sind, sagt der Tag ohnehin wenig.

    Was würden Sie denn als Gedenktag vorschlagen?

    Kowalczuk: Der 9. November würde sich natürlich anbieten und ist in seiner Ambivalenz kaum zu übertreffen. Er symbolisiert alle Brüche der deutschen Geschichte: 1918 die doppelte Ausrufung der Republik, 1923 Hitlers versuchter Putsch, 1938 die Pogromnacht als Auftakt zum Völkermord an den Juden und schließlich der Mauerfall. Das ist weniger ein Tag zum Feiern, als zum Gedenken. Wenn es ums Feiern geht, wäre der 9. Oktober zu nennen, an dem 1989 mit der Montagsdemonstration in Leipzig die politische Ohnmacht der SED offenbar wurde. Der 17. Juni als Erinnerung an den Volksaufstand in der DDR war in der alten Bundesrepublik zum bloßen freien Tag im Sommer verkommen. Mir persönlich gefällt der 18. März als Tag der Demokratie mit der März-Revolution von 1848 und der Volkskammerwahl 1990 – zwei Ereignisse gesellschaftlicher Selbstermächtigung. Aber Feiertag hin oder her: Es kommt auf die Ausgestaltung an. Sie müssen die Herzen erreichen, nicht nur die Köpfe.

    Zur Person Ilko-Sascha Kowalczuk befasst sich im Buch „Die Übernahme“ aus ostdeutscher Perspektive mit dem Einigungsprozess.

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