Es ist 9.53 Uhr am Mittwoch, als die Einladung zum Blitzgipfel mit der Bundeskanzlerin an die deutschen Ministerpräsidenten ergeht. Viele sind völlig überrascht. Doch weit größere Überraschungen stehen ihnen und dem ganzen Land an diesem denkwürdigen Tag noch bevor. Um 11 Uhr beginnt die Videoschalte und Angela Merkel (CDU) kommt gleich zum Punkt. Sie habe entschieden, sagt sie, die Verordnungen zur sogenannten Osterruhe nicht umzusetzen, sondern vielmehr zu stoppen. Die massive Kritik an den Corona-Beschlüssen des Bund-Länder-Gipfels von Anfang der Woche hat die Kanzlerin zum Umdenken gezwungen – der harte Oster-Lockdown ist wieder vom Tisch.
Merkel gesteht einen Fehler ein, das hat sie nicht oft getan in ihrer fast 16-jährigen Amtszeit als Bundeskanzlerin.
Sie bricht am Mittwoch öffentlich mit dem in der Nacht von Montag auf Dienstag auf ihr eigenes Betreiben hin gefassten Plan. Der sah einen harten Fünf-Tage-Lockdown von Gründonnerstag bis Ostermontag vor, um der Wucht der nunmehr dritten Corona-Welle etwas entgegenzusetzen. Doch von vielen Seiten wurde kritisiert, dass wichtige Fragen offen blieben. Wie die zu den sogenannten Ruhetagen Gründonnerstag und Karsamstag. Weder die Kanzlerin noch die Ministerpräsidenten hatten die Details bedacht, als am frühen Dienstag, ein paar Stunden nach Mitternacht, die Entscheidung fiel.
Der Unmut über die Regierung und die Ministerpräsidenten ist riesig
Wirtschaftsvertreter, Arbeitsrechtler und zahlreiche Branchenverbände brachten eine schier unendliche Liste von Bedenken vor. Und auch in der Politik erhob sich ein Sturm der Entrüstung – nicht nur in der Opposition. In der Sitzung der Unionsfraktion am Dienstag kritisierten mehrere Abgeordnete die CDU-Kanzlerin scharf. Tenor: Die Beschlüsse ließen sich bei den Wählern kaum mehr vermitteln. Merkel hatte sich zu der Sitzung per Video zugeschaltet und die Schalte vorzeitig wieder verlassen. Das vergrößerte laut Teilnehmern den Unmut weiter.
Ohnehin sitzt der Frust bei CDU und CSU tief: Noch vor wenigen Wochen deuteten alle Umfragen auf einen ungefährdeten Wahlerfolg bei der Bundestagswahl im September hin. Dann wuchs der Bürgerfrust über Impf- und Testchaos, über nicht eingehaltene Ankündigungen und kaum mehr verständliche Stufenpläne zur Corona-Strategie. Hinzu kamen die Affären um Unionsabgeordnete, die bei Geschäften mit Corona-Schutzausrüstung offenbar kräftig mitkassiert hatten. Bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz erlebte die CDU ein Debakel, fuhr ihre jeweils historisch schlechtesten Ergebnisse ein. Neue Umfragen sehen die Union im freien Fall.
Ob Merkel mit ihrem Rückzieher die Wogen glätten kann, ist unklar. In der Kritik steht einmal mehr das gesamte Corona-Krisenmanagement von Bund und Ländern. Das Ritual der Runde von Ministerpräsidenten und Kanzlerin, die sich in nächtlichem Ringen auf den Kurs für die folgenden Wochen einigen, hat in seiner jüngsten Auflage all seine Schwächen gezeigt.
Merkel schickte zu Beginn Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) vor. Mit bunten Diagrammen und Grafiken beschwor der studierte Mediziner die Gefahren, die gerade von mutierten Corona-Varianten ausgehen. Doch die Horror-Kurven haben ihre Wirkung auf die Ministerpräsidenten verloren. Sie sind es ja, die die jeweils neuen Beschlüsse den Bürgern im Land erklären müssen. Und die hätten, so sagte es Volker Bouffier, der hessische Ministerpräsident von der CDU, schon vor Wochen, „die Schnauze voll“.
Nach Mallorca reisen geht, aber Urlaub im eigenen Land nicht? Das verstehe, wer will
Nicht nur die SPD-Länderchefs Manuela Schwesig (Mecklenburg-Vorpommern), Malu Dreyer (Rheinland-Pfalz) und Stephan Weil (Niedersachsen) widersprachen Merkel am Montag heftig, als es um das so emotionale Thema Urlaub ging. Auch ihre CDU-Parteifreunde Daniel Günther (Schleswig-Holstein) und Reiner Haseloff (Sachsen-Anhalt) wollten partout nicht einsehen, warum Urlaub zwar auf Mallorca, nicht aber in einer Ferienwohnung im eigenen Land möglich sein soll. Der Oster-Lockdown, der am Ende bei der Sitzung herauskam, hatte sich so gar nicht in den Sitzungsvorlagen gefunden. Erst nach für das Gros der Teilnehmer undurchsichtigen Gesprächen in kleinen Runden nahm er Gestalt an.
Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) fordert dann am Mittwochvormittag im Düsseldorfer Landtag „einen neuen Regierungsstil“. Die Ministerpräsidentenkonferenz habe die Menschen enttäuscht, sagt der CDU-Bundesvorsitzende, der auch potenzieller Kanzlerkandidat der Union ist. „Wir können so nicht weitermachen.“ Merkels Rückzieher lobt er kurz darauf, bekennt sich aber zu seiner Mitverantwortung für die umstrittenen Beschlüsse. Dem schließen sich im Laufe des Nachmittags etliche Länderchefs an – auch SPD-Leute und Winfried Kretschmann, Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident.
Im Landtag in München herrscht – vorsichtig formuliert – zuvor einige Verwirrung am Mittwochvormittag. Erst werden die Abgeordneten von der Nachricht überrascht, dass die für kurz nach 11 Uhr geplante Regierungserklärung von Ministerpräsident Markus Söder (CSU) verschoben werden muss, weil Kanzlerin und Ministerpräsidenten „nachsitzen“. Dann steht mit einem Mal die Frage im Raum, worüber denn im Landtag eigentlich diskutiert werden solle. „Wir haben ja noch nicht einmal die neue bayerische Infektionsschutzverordnung. Wir können doch nicht über etwas abstimmen, das wir gar nicht kennen“, grantelt SPD-Fraktionschef Horst Arnold.
Unter seinen Kollegen in den Oppositions- und Regierungsfraktionen machen sich derweil Ärger, Frustration und Sarkasmus breit.
FDP-Fraktionschef Martin Hagen geht vor allem mit dem bayerischen Ministerpräsidenten hart ins Gericht. „Noch gestern hieß es von Söder: klare Linie, klarer Kurs. Heute haben wir schon wieder Chaostage“, giftet er. Sein Kollege, der frühere FDP-Landesvorsitzende Albert Duin schimpft: „Das ist Regierungsunfähigkeit. Frau Merkel sollte abdanken.“ Grünen-Fraktionschef Ludwig Hartmann, der den vorsichtigen Kurs der Staatsregierung in der Corona-Politik bisher im Grundsatz unterstützt hat, zeigt sich fassungslos: „Ich nehme den Begriff Staatsversagen nicht gerne in den Mund, aber langsam kann man das nicht mehr anders nennen.“ Es sei „unglaublich“, so Hartmann, wie man es in einem reichen, gut organisierten Staat schaffe, in so kurzer Zeit so viel Vertrauen zu verspielen. „Statt Team Vorsicht, hat sich Team Unsicherheit und Chaos durchgesetzt.“
Andere versuchen, dem „Berliner Murks“ mit beißender Ironie oder Galgenhumor zu begegnen. Gerald Pittner (Freie Wähler) lästert: „Das war doch ganz klar ein Aprilscherz von der Kanzlerin. Der Gründonnerstag ist schließlich der 1. April.“ Harald Güller von der SPD versucht, das Hin und Her mit Humor zu nehmen: „Es ist ja nur gut, dass Ostereier nicht so lange haltbar sind, sonst hätten sie womöglich Ostern noch auf Weihnachten verschoben.“ Doch zum Lachen, sagt Güller auch noch, sei ihm eigentlich nicht zumute. Was Kanzlerin und Ministerpräsidenten da abgeliefert hätten, sei „ein Musterbeispiel dafür, wie man das Vertrauen der Bürger in die Politik verspielen kann“.
Auch Markus Söder entschuldigt sich für das Hin und Her
Auch bei der CSU herrscht einigermaßen Ratlosigkeit. „Die Frau Merkel hat doch den Reset-Knopf gedrückt. Das ist doch gut so“, sagt der Abgeordnete Wolfgang Fackler und lacht. Auf Nachfrage, ob er das jetzt ernst meine, wendet er sich kopfschüttelnd ab und meint: „So ein Hickhack haben wir selten erlebt.“ Und seinem Parteifreund Alexander König fällt zur öffentlichen Entschuldigung und zum Zurückrudern der Bundeskanzlerin nur noch dieser Satz ein: „Ich hoffe, dass sie heute ausgeschlafen hat, damit sie zu vernünftigen Entscheidungen kommt.“
Kritische Worte über Söder fallen in der CSU nicht. Hinter vorgehaltener Hand allerdings wird die Frage gestellt, warum nach der Ministerpräsidentenkonferenz nicht wenigstens in der bayerischen Staatsregierung jemand die Sinnhaftigkeit der Berliner Beschlüsse hinterfragt habe. Einzig Finanzminister Albert Füracker (CSU), so heißt es aus Teilnehmerkreisen, habe am Dienstag im Kabinett auf die immensen Folgekosten hingewiesen, die durch „erweiterte Ruhetage“ unweigerlich fällig würden. Der Hinweis sei zu Protokoll genommen worden. Geändert habe sich dadurch nichts.
Bei den Freien Wählern, die in München mit am Kabinettstisch sitzen und sich dort seit Monaten nur widerwillig dem Kurs in der Corona-Politik beugen, der von Merkel, Söder und den Ministerpräsidenten vorgegeben wird, mischt sich am Mittwoch im Landtag eine dicke Portion Genugtuung in die Kommentare. Mit dem Wort „Chaos“, so der parlamentarische Geschäftsführer Fabian Mehring, sei das Hickhack um den Oster-Lockdown präzise beschrieben. „Aber für uns ist es gut, dass es jetzt endlich in unsere Richtung geht.“ Landtagsvizepräsident Alexander Hold zieht zum Vergleich das chaotische Ende der DDR heran. „Das erinnert fast schon an Günter Schabowski 1989, aber damals wie heute werden wenigstens untragbare Umstände beendet“, sagt er. Der SED-Spitzenfunktionär Schabowski hatte in einer legendären Pressekonferenz die neue DDR-Reiseverordnung vorgestellt und gestottert: „Das tritt nach meiner Kenntnis…ist das sofort…unverzüglich“. Die Folge war die Maueröffnung.
Ganz so historisch geht es dann nicht zu, als Merkel sich am Mittwochnachmittag im Bundestag in Berlin den Fragen der Abgeordneten stellt. Leicht zittert ihre Stimme, während sie ihre Entschuldigung für die Verwirrung um den Oster-Lockdown wiederholt. Doch schnell gewinnt sie ihre Sicherheit wieder.
Und in München? Dort tritt um kurz vor 15 Uhr Ministerpräsident Söder vor die Presse. Auch er entschuldigt sich für die Verwirrung um die zurückgenommene Osterruhe. „Wir haben das gemeinsam entschieden. Also tragen wir alle gemeinsam Verantwortung, aber sagen dann auch gemeinsam Entschuldigung. Es tut uns leid für dieses Hin und Her.“ In seiner Regierungserklärung wiederholt er: „Ich bedauere sehr, dass da ein Vertrauensschaden entstanden ist.“ Die Idee sei gewesen, die Osterfeiertage zu nutzen, um die dritte Welle „runterzufahren und zu beruhigen“. Er sei erst am Morgen darüber informiert worden, dass sie sich rechtlich nicht umsetzen lasse.
Ausgestanden ist die Sache damit aber noch nicht – weder zwischen den Koalitionären in Berlin noch innerhalb der CSU.
Im Bayerischen Landtag spricht man von "Berliner Murks"
Aus Brüssel kommen von CSU-Vize Manfred Weber scharfe Bemerkungen gegen die SPD: „Die Bundeskanzlerin setzt das richtige Signal und übernimmt Verantwortung in dieser schwierigen Phase der Pandemie. Das würde man sich von anderen und vor allem von SPD-Vizekanzler Scholz auch häufiger wünschen, der sich bisher meist hinter der Kanzlerin versteckt.“
In München meldet sich der frühere Wirtschaftsminister und Vorsitzende der Mittelstandsunion in Bayern, Franz Pschierer, zu Wort: „Ich hätte erwartet, dass von den Länderchefs – damit auch von Ministerpräsident Söder – hier energischer widersprochen worden wäre. Letztlich scheinen wohl alle 16 Ministerpräsidentinnen und -präsidenten den Vorschlag der Kanzlerin abgenickt zu haben.“ Solch weitreichende Entscheidungen sollten nicht nachts um drei Uhr getroffen werden, sagt Pschierer und fügt ironisch hinzu: „Ich schlage für künftige Ministerpräsidentenkonferenzen zwingend Ruhepausen vor, wie sie bei Bus- oder Lkw-Fahrern vorgeschrieben sind.“
Eine Teilschuld wird CSU-intern auch beim früheren CSU-Chef, Bundesinnenminister Horst Seehofer, gesucht. Die Information, dass ein Ruhetag rechtlich möglich wäre, sei aus seinem Ministerium gekommen, heißt es. Seehofer selbst habe an der Sitzung, „obwohl er immer eingeladen ist“, nicht teilgenommen. Ein Mitglied des CSU-Vorstands zeigt sich wenig amüsiert: „Der Horst schläft um diese Zeit schon.“ Er wisse dann aber am nächsten Tag alles besser. Und damit endet der Chaostag Mittwoch.
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