Es soll das letzte Mal sein. Das letzte Mal, dass die Menschen um kurz vor 22 Uhr nervös auf die Uhr schauen und sich Argumente für die Polizei überlegen, warum sie wirklich nur dieses eine Mal die Ausgangssperre brechen mussten. Das letzte Mal, dass Gastronomen im leeren Wirtsraum stehen und ihre Angestellten auf bessere Zeiten vertrösten. Das letzte Mal, dass Schüler vor dem Laptop sitzen und versuchen, die Erklärungen der Lehrerin zur Matheaufgabe zu verstehen, während hinten der kleine Bruder plärrt.
Das letzte Mal, dass ein Virus das ganze Land lahmlegt. Doch Deutschland hat schon so einige „letzte“ Male erlebt. Lockdown, Lockdown light, Notbremse. Die dritte Corona-Welle hält sich trotz leichter Rückgänge zäh und liegt bleischwer auf der Republik. 460 Tage nachdem der erste Covid-Fall in Deutschland gemeldet worden war, scheint die Geduld aufgebraucht. Die Politik hangelt sich von Woche zu Woche und verliert sich zunehmend in Phrasen, die Mahnungen der Wissenschaft sind zum Hintergrundgeräusch verkommen, die Menschen sind pandemiemüde und ermattet.
„Das, was jetzt seit einem Jahr andauernde Pandemie an gesellschaftlichen Wirkungen mit sich gebracht hat, ist ohne Beispiel seit Ende des Zweiten Weltkriegs“, sagt Angela Merkel. „So etwas kannten wir nicht.“ Läden dicht, Schulen geschlossen, Ausgangssperre: Als Ende Januar 2020 die ersten Fälle in Deutschland gemeldet wurden, lag das außerhalb jeder Vorstellung. „Wenn man sich manchmal neben das Geschehen stellt und überlegt, wie sah die Welt vor zwei Jahren aus, dann wird uns erst schmerzlich bewusst, was wir alles an Einschränkungen und Beschränkungen haben“, sagt die Kanzlerin. „Das ist schon gewaltig.“ Ziel sei es, so schnell wie möglich wieder zur alten Lebensweise zurückzukehren. Und doch schränkt sie schon im nächsten Satz ein: „Das wird so schnell nicht gehen.“ Merkels Fazit ist so bitter wie diffus: „Wir werden mit diesem Virus noch eine ganze Weile leben müssen.“ Doch was heißt das, „mit dem Virus leben“? Wie lange hält Deutschland noch durch?
Die Politik traut sich keine Zukunftsprognosen mehr zu
Wer versucht, die Regierung auf konkrete Daten, sprich auf einen Zeitplan festzulegen, wird vertröstet, die Antworten bleiben vage. Jetzt gehe es doch erst einmal darum, die Welle zu brechen. Wieder einmal verschiebt die Politik Entscheidungen in die Zukunft, in der absurden Hoffnung, dass sie dann leichter zu treffen wären. Kaum jemand wagt es, konkrete Zukunftsprognosen zu treffen.
Wie schnell sicher geglaubte Erfolge zwischen den Fingern zerrinnen können, hatte der vergangene Sommer nachdrücklich gezeigt: Im Juni und Juli sanken die Inzidenzwerte auf unter fünf – eine Zahl, die heute wie aus einer anderen Welt scheint. Der Leichtsinn wurde schnell bestraft, Zehntausende infizierten sich im Herbst und Winter. Im Januar breitete sich die britische Variante aus, aktuell sorgen die explodierenden Zahlen in Indien für tiefe Sorgenfalten auch in Berlin. „Die Erfahrungen machen vorsichtig“, sagt Gesundheitsminister Jens Spahn. Und so blickt Deutschland heute in ein schwarzes Loch und traut sich nicht, eine Vorstellung zu entwickeln, wie es dahinter aussehen mag. Bis zum 30. Juni soll die eben erst beschlossene Notbremse immer dann greifen, wenn die Infektionszahlen die Grenzwerte gerissen haben.
Ende des Lockdowns: Das sagt der bayerische Gesundheitsminister Klaus Holetschek
„Es ist verständlich und richtig, dass sich die Menschen nach einer positiven Perspektive sehnen“, sagt Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek. „Klar ist aber auch: Corona ist noch nicht besiegt. Das zeigen uns die weiterhin hohen Inzidenzwerte, das verdeutlicht auch die hohe Betten-Auslastung in den Intensivstationen.“ Häppchenweise versucht die Politik, die Sehnsucht der Menschen abzufedern: Das Kabinett hat einzelne Lockerungen beschlossen, Zoos und Blumenläden etwa dürfen öffnen. Doch die eigentliche Hoffnung liegt auf dem Impffortschritt und den Freiheiten, die den Geimpften gewährt werden können. „In den kommenden Wochen werden immer mehr Menschen die zweite Schutzimpfung erhalten“, sagt Holetschek. „Bis wir aber zur vollen Normalität zurückkehren können, brauchen wir noch Geduld und Ausdauer.“
Drei Szenarien für die nächsten Wochen in der Corona-Pandemie
1. Szenario – Die Corona-Zahlen sinken aufgrund der politischen Maßnahmen: Im überarbeiteten Infektionsschutzgesetz ist klar festgelegt, wie dieses Szenario aussehen kann. Sobald die Inzidenzzahlen an fünf aufeinanderfolgenden Werktagen unter einen Wert von 100 fallen, werden die Lockdown-Bestimmungen gelockert, erst wenn sie unter 50 fallen, sollen sie auch weitgehend aufgehoben werden. Ein Beispiel: Liegt die Inzidenz in einer Region zwischen 50 und 100 können Kunden wieder mit Termin einkaufen, liegt sie unter 50 ist das Einkaufen auch ohne Termin möglich. Allerdings müssten auch dann noch die Abstands- und Hygieneregeln eingehalten und Tests etwa in Betrieben durchgeführt werden, um ein erneutes Anschwellen der Infektionszahlen zu verhindern. Ein völlig normaler Sommer ist also selbst im positivsten aller Szenarien nicht möglich. Und: Selbst wenn die Inzidenz bundesweit unter 50 fällt, ist es noch nicht sicher, dass auch große Veranstaltungen wie das Oktoberfest in diesem Jahr stattfinden - Experten jedenfalls raten ab. Wie schnell Deutschland Inzidenzwerte von unter 50 erreichen wird, hängt unter anderem vom Impffortschritt ab. Länder wie Israel haben gezeigt, dass die Corona-Kurve nach unten ging, als mindestens 50 Prozent der Menschen immunisiert waren. Das dürfte in Deutschland im optimistischsten Fall frühestens Ende Mai, realitisch eher jedoch im Juni der Fall sein. Ganz verschwunden sein wird Corona aber auch dann nicht. Rund 14 Millionen Kinder und Jugendliche und damit etwa 17 Prozent der Bevölkerung können noch nicht geimpft werden und verbreiten damit das Virus weiter. Es wird dadurch immer wieder zu lokal begrenzten Lockdowns kommen. Vor allem im Herbst ist mit dem Aufflammen von Infektionsherden zu rechnen.
2. Szenario – Die Corona-Zahlen verharren trotz der Maßnahmen auf hohem Niveau: Der Druck auf die Politik wird in diesem Fall von allen Seiten steigen. Sowohl diejenigen, die auf Öffnungsschritte dringen als auch jene, die vor einem Kontrollverlust warnen, werden immer lauter werden. Auch im europäischen Vergleich wird sich die Frage stellen, ob Deutschland sich eine Sonderrolle leisten kann, wenn nach und nach vielerorts der Alltag wieder einzieht. Eine mögliche Antwort der Politik könnte darin bestehen, sich von den Inzidenzwerten als Maßstab des eigenen Handelns zu lösen. Zwar spielen schon jetzt auch die Belegung der Intensivbetten, die Sterbezahlen und der Impffortschritt eine gewichtige Rolle bei der Bewertung der Lage. Doch durch die Änderung des Infektionsschutzgesetzes kommt aktuell dem Inzidenzwert eine noch wichtigere Rolle zu als bislang ohnehin schon. Dieser Wert könnte sich für die Regierung bei gleichbleibend hohen Infektionszahlen als Fessel erweisen, von der sie sich lösen will. Experten warnen ausdrücklich davor, sie betonen, dass viele Kranke auch viele Tote bedeuten. Die Gruppe der „No-Covid“-Initiative warnt, eine Öffnung „sollte nicht an politisch opportunen Terminen ausgerichtet sein, sondern an der Datenlage und einer nachvollziehbaren Strategie. Im Voraus formulierte niedrige Zielinzidenzwerte helfen, dem Öffnungsdruck standzuhalten und nicht erneut zu früh zu lockern.“
3. Szenario - Die Corona-Zahlen steigen aufgrund neuer Mutationen: Das Auftauchen der britischen Mutante hat gezeigt, wie schwierig es ist, in dieser Pandemie sichere Vorhersagen zu machen. Die Variante B117 ist deutlich ansteckender als die Ursprungsform und sorgte dafür dass die Corona-Zahlen rasant anstiegen. Nun machen Meldungen von einer indischen Mutante die Runde. Doch das Problem kommt keineswegs nur aus anderen Ländern: „Bei hohen Fallzahlen lernt das Virus den Impfschutz zu unterlaufen“, erklärt die Wissenschaftlerin Viola Priesemann. „Die Virusvarianten, die vom Immunsystem nicht gleich erkannt werden, haben eine bessere Chance, sich zu vermehren und dann in der Bevölkerung auszubreiten.“ Diese Virusvarianten heißen deswegen Fluchtmutanten: Gegen sie sind die Impfungen weniger wirksam. Im schlimmsten Fall muss wegen einer Fluchtmutante mit dem Impfen wieder ganz oder teilweise von vorne begonnen werden. Deutschland würde damit in einen erneuten langen Lockdown steuern.
Und doch könnten paradoxerweise gerade die Impferfolge den Druck auf die Politik noch erhöhen. Wer vollständig geimpft ist, muss in Bayern im Handel und beim Friseur ab sofort keinen Test mehr vorlegen. Ein Anfang – weitere Forderungen werden unausweichlich folgen. Warum sollen Geimpfte nicht wieder ins Restaurant dürfen, im Schwimmbad ihre Bahnen ziehen, singen, tanzen, ohne Maske lachen?
Es ist zumindest ein zweischneidiges Schwert. „Nicht nur das Coronavirus, sondern auch Impfungen bringen Ungerechtigkeiten mit sich: Menschen mit Vorerkrankungen und im höheren Alter, deren Impfungen priorisiert wurden, können früher wieder ihre Grundrechte genießen“, gibt Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, zu bedenken. Denn gleichzeitig zeigten Studien, dass Glück und Lebenszufriedenheit bei den jüngeren Menschen durch die Einschränkungen deutlich stärker gelitten haben als bei den der älteren. „Dies haben Jüngere hingenommen, um sich selbst, vor allem aber auch um Risikogruppen zu schützen“, sagt er. „Viele von ihnen würden mit Ablehnung reagieren, wenn sie sehen, wie nun Geimpfte in Cafés sitzen, reisen und alle ihre Freiheiten wieder genießen können, während sie selbst unter Androhung von Sanktionen keine dieser Freiheiten haben, weil sie noch kein Impfangebot erhalten haben.“
Diese – wenn auch unvermeidbare – Ungerechtigkeit dürfe der Staat nicht ignorieren, Solidarität und Zusammenhalt seien für eine Gesellschaft genauso essenziell wie der Schutz von Grundrechten. „Daher wird die Politik sehr vorsichtig abwägen müssen, welche Freiheiten sie geimpften Menschen wieder ermöglicht, und welche erst dann, wenn alle sie genießen können“, betont Fratzscher. Sein Rat: Die Regierung soll sich möglichst konsequent an das Infektionsschutzgesetz und damit an die Notbremse halten und nicht ständig nach neuen Wegen suchen.
Marcel Fratzscher: "Die Wirtschaft braucht eine Perspektive"
Braucht es nicht trotzdem so etwas wie ein politisches Versprechen? „Unternehmen benötigen dringend eine Perspektive für Öffnungen und die Zeit nach der Pandemie“, sagt Fratzscher. Nur so könnten sie planen und ihr Überleben sichern. Sein Rat: „Die Bundesregierung sollte einen Öffnungsfahrplan veröffentlichen, um einen schnellen Neustart der Wirtschaft zu ermöglichen“, sagt Fratzscher. „Zu einem solchen Plan gehören auch konkrete wirtschaftliche Hilfen, die in vielen Fällen wohl auch noch lange nach der vollständigen Öffnung gewährt werden müssen.“ Denn viele Unternehmen seien stark verschuldet und müssten sich ausreichend auf den Neustart vorbereiten. Dies gelte vor allem für Unternehmen im stationären Einzelhandel, der Gastronomie, der Reisebranche und der Veranstaltungsbranche.
So öffnen andere Länder in der Corona-Pandemie
Dänemark: Die Geschäfte haben längst wieder geöffnet, und die Straßen sind voller Menschen. Cafés, Restaurants und Bars dürfen seit einer Woche wieder Kunden bedienen - im Inneren allerdings nur, wenn die Gäste per App einen negativen Corona-Test, eine Impfung oder eine überstandene Infektion nachweisen können. Dabei fällt auf: Die dänischen Neuinfektionszahlen sind stabil niedrig geblieben, liegen mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von unter 100 seit Langem unverändert unter den deutschen Werten. Dänemark verzichtet als einziges EU-Land auf den Einsatz des Impfstoffs von AstraZeneca. Trotzdem sind knapp 22 Prozent der Gesamtbevölkerung mindestens einmal geimpft.
Frankreich: Sofern es die Lage zulässt, sollen Anfang Mai die Bewegungseinschränkungen aufgehoben werden. Aktuell dürfen sich die Menschen nur mit triftigem Grund mehr als zehn Kilometer von ihrer Wohnung entfernen. Außerdem könnten Außenbereiche von Restaurants und bestimmte Kultureinrichtungen wieder öffnen. Auch über eine Lockerung der abendlichen Ausgangssperre, die aktuell um 19 Uhr beginnt, wird gesprochen. Die Corona-Lage ist allerdings weiter angespannt. Zuletzt gab es rund 300 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner und sieben Tage. Rund ein Fünftel der Bevölkerung wurde mindestens einmal geimpft.
Großbritannien: In Großbritannien hat sich die Corona-Lage dank eines langen, konsequenten Lockdowns und der weit fortgeschrittenen Impfkampagne mittlerweile deutlich entspannt. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist bereits einmal geimpft, ein Viertel sogar vollständig. Die Sieben-Tage-Inzidenz lag zuletzt bei rund 25 Fällen pro 100.000 Einwohnern. Pubs und Restaurants dürfen in England und Wales draußen wieder Gäste empfangen, in Schottland sogar bis abends auch drinnen. Geschäfte, Fitnessstudios, Friseure und Zoos sind weitgehend wieder geöffnet. Treffen in Innenräumen und Reisen ins Ausland bleiben allerdings noch bis mindestens Mitte Mai verboten.
Italien: Italien befindet sich seit Kurzem auf einem schrittweisen Lockerungskurs. Wo die Corona-Zahlen moderat sind, dürfen Restaurants und Bars auch abends im Außenbereich an Tischen servieren. Ab 22 Uhr gilt das Ausgangsverbot. Museen und Kinos in den sogenannten Gelben Zonen haben bereits geöffnet. Ab 1. Juni soll man in Lokalen wieder drinnen sitzen dürfen. Italien peilt den 2. Juni für den Start der Sommersaison an. Das Reisen im Land ist noch teils eingeschränkt, aber mit Impfung oder negativem Corona-Test soll es bald leichter werden, selbst in höhere Risikozonen zu fahren. Die Sieben-Tage-Inzidenz lag zuletzt bei etwa 160. Über 22 Prozent der Bevölkerung sind mindestens einmal gegen das Coronavirus geimpft.
Malta: Der Inselstaat will ab dem 1. Juni für den internationalen Tourismus öffnen. Schon ab dem 10. Mai dürfen Restaurants wieder Besucher willkommen heißen und bis 17 Uhr an Tischen bedienen. Das Besondere: Mehr als 40 Prozent der Gesamtbevölkerung haben bislang zumindest eine Impfung bekommen. Die Regierung will geimpfte Ausländer in Kürze mit einer Vorzugsbehandlung ins Land locken.
Niederlande: Die Niederlande haben am Mittwoch trotz anhaltend hoher Corona-Zahlen die ersten Maßnahmen seit dem strengen Lockdown von Mitte Dezember gelockert. Die abendliche Ausgangssperre ist abgeschafft, Geschäfte dürfen wieder Kunden ohne Termin empfangen und Gaststätten im Außenbereich unter Auflagen wieder Gäste bedienen - zumindest von 12 bis 18 Uhr. Zu Hause darf man wieder zwei statt bisher einen Besucher am Tag treffen. Verboten bleiben alle Veranstaltungen mit Publikum wie etwa Museen, Kinos und Theater. Schüler und Studenten haben zumindest an einem Tag in der Woche Präsenzunterricht. Die Sieben-Tage-Inzidenz lag bei 317. Rund 30 Prozent der Bevölkerung wurde mindestens einmal geimpft.
Österreich: Ab 19. Mai dürfen Gastronomie, Hotels, Bühnen und Sporteinrichtungen wieder die Pforten öffnen. Dabei setzt die Regierung auf Zutrittstests als Schutzmaßnahme. Veranstaltungen sind draußen auf 3000 und drinnen auf 1500 Personen beschränkt. In und rund um Wien gilt derzeit ein noch strengerer Lockdown, weswegen die meisten Geschäfte bis Sonntag noch geschlossen sind. Die 7-Tage-Inzidenz sank landesweit zuletzt auf 168. Rund 28 Prozent der Einwohner ab 16 Jahren haben mindestens eine Impfdosis erhalten.
Polen: Schrittweise Öffnungen sind geplant. Zuerst sollen etwa Einkaufszentren und Museen unter Hygieneauflagen wieder öffnen dürfen. Vom 8. Mai an dürfen Hotels Gäste bis zu einer Auslastung von 50 Prozent beherbergen. Die Außengastronomie soll ab dem 15. Mai starten. Ab dem 29. Mai soll der Restaurantbetrieb in Innenräumen mit halber Auslastung möglich sein. Das Gesundheitsministerium meldete am Mittwoch 8895 registrierte Neuinfektionen und 636 Todesfälle innerhalb von 24 Stunden, eine Sieben-Tage-Inzidenz wird in Polen nicht berechnet. Etwa 10,7 Millionen Menschen - also 28,2 Prozent der Bevölkerung - sind mindestens ein Mal geimpft.
Schweiz: Bereits seit Anfang März haben Läden, Museen und Bibliotheken trotz steigender Infektionszahlen wieder geöffnet. Seit 19. April sind auch Restaurantterrassen, Kinos, Theater und Fitnesszentren wieder in Betrieb. Auch Open-Air-Konzerte und Fußballspiele dürfen wieder stattfinden. Dabei gelten Hygieneregeln wie etwa eine Begrenzung der Anzahl von Anwesenden oder die Maskenpflicht. Seit Ostern - vier Wochen nach der Öffnung von Läden und Museen - ist der Anstieg allerdings nur noch sehr gering. Anders als in anderen Ländern wird in der Schweiz eine 14-Tage-Inzidenz berechnet. Laut Bundesamt für Gesundheit lag sie am Mittwoch bei 315 Neuansteckungen pro 100.000 Einwohner. Nach jüngsten Zahlen war knapp zehn Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft.
Slowakei: Vor eineinhalb Wochen haben die Geschäfte unter Einhaltung strenger Hygiene- und Abstandsregeln wieder geöffnet. Gastronomiebetriebe dürfen seit Montag wieder in ihren Außenbereichen Speisen und Getränke servieren. Bei professionellen Sportveranstaltungen sind seit Dienstag auch wieder Zuschauer erlaubt. Die Zahl der Neuansteckungen ist rückläufig und gemessen an der Einwohnerzahl inzwischen auch deutlich unter den Zahlen für Deutschland. Bis Mittwoch wurden nach offiziellen Angaben rund 20 Prozent der Bevölkerung mindestens einmal geimpft.
Spanien: Die Lage in Spanien ist relativ stabil, die Sieben-Tage-Inzidenz lag am Mittwoch bei 108. Bisher hat 23 Prozent der Bevölkerung mindestens eine Impfung erhalten. Am 9. Mai endet der Corona-Notstand und soll wegen der guten Entwicklung nicht verlängert werden. Damit entfällt die Grundlage für die meisten Maßnahmen wie Reisebeschränkungen, nächtliche Ausgangssperren, Obergrenzen bei Versammlungen und Schließung von Gaststätten. Wie es danach weitergehen soll, ist noch nicht klar. Alle Hoffnungen des extrem vom Tourismus abhängigen Landes für eine wieder normale Sommersaison richten sich auf den digitalen Impfpass.
„Zum Öffnen haben wir einen Stufenplan, wir brauchen uns nur daran halten“, sagt die Wissenschaftlerin Viola Priesemann. Der sei doch klar ausformuliert und ein Versuch, nicht nur auf Lockdown und Restriktion zu setzen. Tatsächlich hatten sich Bund und Länder in einem Corona-Gipfel Anfang März auf einen Plan geeinigt, der in der alltäglichen Pandemie-Verwirrung längst in Vergessenheit geraten ist. Grob gesagt ging der mal so: Ist die Inzidenz unter 50, öffnen Einzelhandel, Museen und Zoos, Sport im Freien ist wieder möglich, 14 Tage später folgen die Außengastronomie und Theater und Kinos. Weitere 14 Tage später könnten Freizeitveranstaltungen mit maximal 50 Teilnehmern stattfinden. Steigen die Inzidenzwerte über 50, ist der Fortschritt entsprechend langsamer. So manche Details fielen längst neuen Beschlüssen zum Opfer.
Doch was als Strategie bleibt: Die Entwicklung ist an Inzidenzwerte geknüpft – eine Maßeinheit, die von vielen Wissenschaftlern befürwortet wird, aber für den Einzelnen abstrakt und unkonkret bleibt. Fast neidisch werden viele daher, sobald der Blick auf die Nachbarländer fällt. Die Niederlande öffnet Geschäfte und Gastronomie – trotz einer Inzidenz von 317. Die Schweiz ist seit einer Woche fast wieder im Alltag angekommen – trotz einer Inzidenz von 315. Selbst das schwer getroffene Belgien will lockern – trotz einer Inzidenz von 196. Was all diesen Ländern gemein ist: Die ausdrücklichen Warnungen von Medizinern verhallen weitgehend, die Entscheidungen sind politisch motiviert.
Während Deutschland überlegt, wird in Österreich gelockert
Ähnlich sieht es in Wien aus: Würde in Österreich die deutsche Notbremse gelten, das Land müsste – bis auf das Burgenland – in einen Lockdown. Aber wie so oft geht Sebastian Kurz seinen eigenen Weg. Ab dem 19. Mai wird geöffnet, schrittweise zwar, aber in allen Bereichen: Wer „geimpft, getestet oder genesen“ ist, soll mit einer FFP2-Maske und Vorab-Registrierung dann nicht nur überall einkaufen, sondern auch Gastronomie- oder Kulturbetriebe besuchen dürfen. Auch die Hotels öffnen wieder. Bundeskanzler Kurz setzt diese Öffnungen einfach fest, zu einem Zeitpunkt wohlgemerkt, als der neue Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein noch nicht einmal vereidigt war.
Bei Medizinern lässt das die Sorgen wachsen. Er „sehe die Ausgangslage für die Öffnungen nicht“, kritisiert Gerald Gartlehner, Epidemiologe an der Donau-Universität Krems, die Öffnungseuphorie der Regierungsspitze. Bevor man öffne, müsse man sich die Inzidenzen Mitte Mai genau ansehen. Sonst drohe ein neuer Lockdown, befürchten auch viele seiner Kollegen.
Den Kanzler scheint das nicht zu kümmern. Kurz spricht vom „Impfturbo“, der Sicherheit geben würde, und von den Tests. Auswertungen zeigen jedoch: Während ein Viertel der Österreicher alle vier Tage einen Test absolviert, geht ein weiteres Viertel innerhalb eines Monats kein einziges Mal zum Test. „Die Testbereitschaft ist weiterhin zu gering für eine erfolgreiche Pandemiebekämpfung“, sagt Bernhard Kittel, Wirtschaftssoziologe der Uni Wien.
Doch Kurz drückt aufs Tempo. Den sogenannten „grünen Pass“, der EU-weit in Vorbereitung ist und im Sommer überall für neue (Reise-)Freiheit sorgen soll, will er im Alleingang bereits Ende Mai in Österreich einführen. Wie dies funktionieren soll, ist offen: Die Experten der Ärztekammer treibt die Sorge um, wie Impfungen, negative Tests oder überstandene Infektionen digital erfasst und bestätigt werden sollen. „Diese Fragen werden nun überhaupt nicht gestellt. Wir verstehen hier die Geschwindigkeit, diesen Druck, der gemacht wird, überhaupt nicht.“ Man solle lieber „einen Gang zurückschalten“, sagt Dietmar Bayer, Spezialist für Telemedizin in der Ärztekammer, im ORF-Morgenjournal.
Trotzdem soll schon am Montag die auch von Datenschützern heftig kritisierte Novelle mithilfe der oppositionellen Sozialdemokraten im Parlament durchgewunken werden. Fazit: So fest der Entschluss ist, wieder aufzusperren, so umstritten und damit riskant sind die Vorbereitungen darauf.
Mahnende Stimmen zum Ende des Lockdowns gehen in Österreich unter
Wieso geht Österreich diesen Weg der Öffnungen und damit das Risiko ein, erneut – es wäre zum fünften Mal seit Ausbruch der Pandemie – in einen Lockdown gehen zu müssen? Ein Grund liegt sicherlich in der Tatsache, dass in Österreich eine zentrale Institution wie das Robert-Koch-Institut fehlt. So kommt es auf die Initiative einzelner Experten an, die die Regierungsspitze in Wien beraten – nicht immer können sich die Vorsichtigen unter ihnen durchsetzen, wie sich in Ostösterreich Anfang April zeigte. Wäre da nicht der Wiener Landeshauptmann Michael Ludwig (SPÖ) gewesen, der aufgrund der äußerst prekären Lage in den Krankenhäusern die Initiative ergriff – fraglich, ob Niederösterreich und das Burgenland in den gemeinsamen Lockdown eingewilligt hätten.
Dass nun bundesweit wieder aufgesperrt wird, hat in Summe vor allem rein politische Gründe: Der Kanzler tritt vor, weil er es sein will, der die heiß ersehnten Lockerungen verkündet – im Ringen um den Lockdown im Osten hielt er sich aus der Debatte heraus. Die Länder auf Linie zu bringen, wie dies Bundeskanzlerin Angela Merkel zumindest in Teilen gelungen ist, versucht Sebastian Kurz erst gar nicht. Im Hintergrund steht der Plan, den Kanzler nach all den Skandalen der vergangenen Woche quasi zu rehabilitieren, den Abwärtstrend bei seinen Beliebtheitswerten zu stoppen und sein strahlendes Image wiederherzustellen. Ein enger Kurz-Vertrauter soll dem Magazin Trend gesagt haben: „Wenn wir da jetzt gut durchsegeln, ist im Herbst vieles vergessen, von den Pannen beim Impfen bis zu den Chats.“
Lesen Sie hierzu auch:
Boris Palmer: „Mann muss die Menschen nehmen, wie sie sind“
Wie sich die Briten zurück ins Leben stürzen
Spahn rechnet mit Kinderimpfung in den Sommerferien
- Boris Palmer: „Mann muss die Menschen nehmen, wie sie sind“
- Wie sich die Briten zurück ins Leben stürzen
- Spahn rechnet mit Kinderimpfung in den Sommerferien