Friedrich Merz kennt nur eine Haltung: Aufbruch. Die ist sogar zu spüren, wenn der Mann einfach dasitzt, wie vorige Woche in der Bundespressekonferenz in Berlin, dem größten Verhörraum der Bundesrepublik. Hier grillen die Hauptstadtjournalisten die Mächtigen und die, die an die Macht wollen.
Aber Ruhephasen liegen Merz nicht wirklich, so souverän er die Bühne beherrscht, man spürt es an seinen Augen, die hin- und herflitzen. Es ist gerade mal ein paar Dutzend Stunden her, dass Merz erst seine Partei, dann die Republik und eigentlich auch die Welt aufgewühlt hat mit seiner Ankündigung, für den CDU-Vorsitz zu kandidieren und damit als Nachfolger jener Frau, die seine politische Karriere ruiniert hat und die er danach „die Dame aus Ostdeutschland“ genannt hat. Die Bewerbung kam blitzschnell nach Merkels Abschiedsankündigung. Seither ist die Republik in Aufruhr und Merz voll in Fahrt.
Er mag auch gar nicht lange hier sitzen, mit den Gastgebern der Bundespressekonferenz hat er zuvor gefeilscht. Erst wollte Merz ein Statement abgeben, ohne Fragen. Das mochten die Gastgeber nicht, ein Interview gehöre dazu. Schließlich lenkte er ein, aber bitte nur kurz. Und so kommt es auch. Nach 22 Minuten recken sich zwar noch unzählige Fragehände nach oben, aber Merz faltet sein Papier so entschlossen, als sei es seine Ernennungsurkunde, er entschwindet in die Berliner Luft, es gibt viel zu tun.
Kramp-Karrenbauer redet doppelt so lang wie Merz, sagt aber nicht sehr viel
Rund eine Woche später steht Annegret Kramp-Karrenbauer in Berlin, die Fotografen wuseln um sie herum. „Immer mit der Ruhe“, sagt sie, sie wirkt wie eine Frau, die alle Zeit der Welt mitbringt. Fast zehn Tage hat Kramp-Karrenbauer sich Zeit gelassen, um ihre Kandidatur öffentlich zu erläutern, sie wollte erst Formales regeln in ihrer Doppelrolle als CDU-Generalsekretärin und Bewerberin. Und dann beantwortet sie Fragen doppelt so lange wie Merz. Nur sagt sie nicht sehr viel. „Darauf müssen wir Lösungen finden“, ist ein Satz, der oft fällt.
Und dann ist da noch Jens Spahn. Der Gesundheitsminister wurde vielleicht am meisten überrumpelt, erst von Merkel, dann von Merz, schließlich von Kramp-Karrenbauer. Die musste ihre Kandidatur erklären, als Merkel im Vorstand ihren Verzicht erklärte. Sie hat ja ihr Amt als Ministerpräsidentin im Saarland aufgegeben, um nach Berlin zu wechseln, warum hätte sie das tun sollen, außer mit der Aussicht auf Merkels Nachfolge?
Aber Spahn? Der hätte schweigen können, er ist gerade mal 38. Doch Spahn sitzt auch seit 16 Jahren im Parlament, die Hälfte davon rüttelt er gefühlt schon am Tor zum Kanzleramt. Also legte er in der Vorstandssitzung nach, kaum dass Kramp-Karrenbauer verstummt war. Ja, auch er trete an.
Die drei Kandidaten-Szenen fassen zusammen, warum das Innenleben der CDU – die Führungsfragen früher mit Vorliebe im Hinterzimmer ausbaldowerte – mit einem Schlag so offen spannend anmutet wie eine Folge der US-Politserie „House of Cards“.
Es geht nämlich nicht einfach um das Ende einer Ära (obwohl niemand mehr daran zweifelt, dass der Wechsel an der Parteispitze eher früher als später auch einen Wechsel im Kanzleramt einläuten wird).
Für Merkel war Politik stets ein technischer Vorgang
Es geht um viel mehr, eine Stil-Entscheidung: Wie soll Deutschland künftig regiert werden, nach zwölf Jahren mit einer Frau, die zwar einen ungeheuren Machtwillen hatte, ihn aber das Volk nicht merken ließ? Merkel, so hat es ein Beobachter mal geschrieben, ließ Politik wie einen technischen Vorgang aussehen, mit dem man sich nicht allzu emotional befassen müsse. Die Kanzlerin hat auf die Frage, was sie stolz mache an Deutschland, mal gesagt: „Kein anderes Land macht so dichte und schöne Fenster.“
Merkel hat es bis auf das Cover von Time geschafft, als mächtigste Frau der Welt. Sie hat Wahlerfolge eingefahren, Eurokrisen gelöst und Weltfinanzkrisen, sich mit Putin angeschwiegen und über Trump den Kopf geschüttelt. Ganz schön aufregende Jahre waren das, aber sie war dabei stets: maximal unaufgeregt, asymmetrisch demobilisierend, meistens ziemlich vage. Sich nicht klar festzulegen, war für Merkel einfach alternativlos.
So kann es nicht weitergehen, darauf haben sich viele in der CDU festgelegt. Aber auch jener Teil der Bevölkerung, der sich nicht nur an ihrer Flüchtlingspolitik, sondern zudem an der Debattenlosigkeit der Merkel-Jahre abarbeitet.
Doch lässt sich eine Ära so einfach ausradieren und rückgängig machen? Diese parteiinterne Abstimmung der Union ist auch eine Richtungsentscheidung: eher ein Weiter-so mit Annegret Kramp-Karrenbauer, Merkels erklärter Favoritin? Oder soll wieder durchregiert werden von einem, der vieles besser weiß und sich das zu sagen traut wie Merz? Der, das auch, eher wie ein Mann alten Schlages führen würde? Soll wieder Ehrgeiz offen gezeigt werden dürfen, den Merkel stets umsichtig bemäntelte? Dafür steht Merz, aber natürlich auch Spahn.
Wie wird der Machtkampf ausgehen? Ortsbesuch bei einem, der ungenannt bleiben will in diesen wichtigen Wochen vor der Wahl, aber nah dran ist an der Union und ihrer Verfasstheit. Der Mann empfängt in gut bürgerlicher Kulisse, weiches Licht. Doch seine Analyse fällt messerscharf aus.
Die Merkel habe die CDU „systematisch enteiert“, sagt einer
Die Union sei tief gespalten in der Nachfolgedebatte. Es gebe den Flügel um Merz, die Wirtschaftsleute und auch Wertkonservativen, die, man müsse es so sagen, unter Merkel „systematisch enteiert“ worden seien. Unter denen schätzen zahlreiche zudem Spahns klare Sprache. Aber dann seien da andere, die durchaus anerkennen, dass Merkel die Partei geöffnet habe, dass nicht mehr laute Männer den Ton angäben – sondern eher Männer wie der Schleswig-Holsteiner Daniel Günther oder NRW-Ministerpräsident Armin Laschet. Männer, die wirken, als setzten sie sich beim Pinkeln unaufgefordert hin. Die eher „cremig“ sind, so wie FDP-Chef Christian Lindner über den neuen grünen Star Robert Habeck gespottet hat.
„Die Frage ist doch“, sagt der Unions-Insider, „von wem wir Wähler zurückgewinnen wollen? Von den Grünen oder der AfD? Oder auch: von Frauen oder von Männern?“ Was erfolgversprechender ist, das fügt der Mann gleich hinzu, wisse er leider auch nicht genau.
Das Problem: Die CDU weiß es ebenfalls noch nicht sicher. Und die drei Top-Kandidaten sind gerade viel zu beschäftigt damit, ihre Schwächen zu kaschieren.
Die Schwäche von Merz: Er muss die Frage beantworten, ob ganz normale Wähler jemanden als möglichen Kanzler wollen, der zuletzt „active chairman“ eines Unternehmens wie Blackrock war, das zwar keine Heuschrecke ist – aber schon in vielen Konzernen dieser Welt, auch Dax-Unternehmen, sehr bestimmend wirkt und dessen Büros gerade wegen des Verdachts auf Mitwirkung an Cum-Ex-Geschäften durchsucht wurden, fragwürdigen Steuerdeals (das war allerdings vor Merz’ Tätigkeit dort und er hat sich von Cum-Ex klar distanziert).
Wer Merz, wie der Autor dieses Artikels, in den vergangenen Jahren traf, konnte immer auf ein faszinierendes Gespräch über Politik bauen. Aber die Gewissheit, politisch noch einmal selbst zum Zug zu kommen, die hatte Merz selbst nicht mehr. Hat er also noch darauf geachtet, ob all seine Tätigkeiten im Rückblick politisch verträglich ist? Oder drohen ihm – und die scheinbar so harmlose Konkurrentin Kramp-Karrenbauer ermuntert dazu hinter den Kulissen schon fleißig – nun unvorbereitet hässliche Debatten über seine Millionen, seine Mandate, seine Jets?
Spahn wiederum muss den Eindruck loswerden, es ginge ihm stets vor allem um: Jens Spahn.
Und Kramp-Karrenbauer? Sie will vor allem klarstellen, nicht Merkel zu sein. AKK, so ihr Spitzname, tritt nun mal ähnlich auf, eher spröde, latent muttihaft. Wohl deswegen sprach sie bei ihrer Pressekonferenz fast brutal von der „bleiernen“ Zeit zuletzt unter Merkel. AKK muss das machen, Merkel war einst auch brutal zu Helmut Kohl.
Und dann müssen alle drei noch etwas anderes bedienen: Retro-Sehnsucht. Für Fans von Kramp-Karrenbauer ist es Sehnsucht nach einer Art von Merkel, bevor diese so schrecklich verbraucht wirkte.
Spahn lebt zwar in Berlin-Mitte wie ein Hipster, er ist mit einem Bunte-Journalisten verheiratet. Aber wenn er sich aufregt, dass man in Lokalen auf Englisch bestellen muss, wirkt er fast, als wünsche er sich in ein Reihenhaus in Ostwestfalen in den 1980ern zurück.
Merz-Anhänger wiederum eint die Sehnsucht nach einer Zeit, als der größte Streit noch um die Bierdeckel-Steuererklärung kreiste, es Wehrpflicht gab und Atomkraft – und auch mal ein Basta als Führungsansage reichte.
Gerhard Schröder empfiehlt Deutschland wieder mehr Schröder
Dazu passt ein Termin in Berlin in dieser Woche. Auf einer Bühne sitzt Gerhard Schröder. Er hat den Begriff der Basta-Politik geprägt, im Publikum sitzt eine Dame aus Korea, seine fünfte Ehefrau. Damit hat Schröder mit Joschka Fischer gleichgezogen, der ist auch bei der fünften Ehefrau.
Schröder soll zum 20. Jahrestag des Beginns seiner Kanzlerschaft sprechen. Aber er spricht vor allem: über sich und was er (besser) machen würde. Erst sagt er SPD-Chefin Andrea Nahles, was die SPD zu tun habe. Dann gibt er Frau Merkel Ratschläge. Und schließlich empfiehlt Schröder den Deutschen, wieder mehr Gerhard Schröder zu wagen, damit sei das Land nicht schlecht gefahren. Schröder grinst, aber ist das wirklich nur Spaß?
Das Publikum hängt ihm an den Lippen, es lacht selig über den weisen alten Macho Schröder. Vielleicht waren sie einfach doch nicht so schlecht, die Basta-Zeiten?
Nur: Lässt sich diese Zeit so zurückdrehen? Oder hat sich in den Merkel-Jahren auch die Gesellschaft bei uns verändert? Wer in diesen Tagen mit Wirtschaftsleuten spricht, hört viele gute Worte über Friedrich Merz (und viele böse über den Stillstand der Kanzlerin). Über seine Kompetenz, seine Kontakte nach Amerika, seinen leidenschaftlichen Einsatz für das umstrittene Freihandelsabkommen TTIP (für das Merkel nie wirklich kämpfte).
Aber man hört auch, dass der Führungsstil in deutschen Konzernen eher „Merkeliger“ geworden sei, „nicht mehr so dicke Hose“, sagt einer. Weiblicher, vermittelnder. Und selbst in diesen Kreisen sorgen sich manche, ein Kandidat Merz könne die CDU auf dem linken Flügel kosten, was man rechts gewönne, ein Nullsummenspiel.
Wäre das der heimliche Triumph der Angela Merkel, dass man ihre Ära nicht voll ausradieren kann?
Merkel spürt das nahe Ende
Als die Kanzlerin Ende September beim „Augsburger Allgemeine Live“ auftrat, berichtete sie, wie sie – die geschiedene Ostdeutsche – selber zögerte, als ihr der CDU-Vorsitz angetragen wurde.
„Ich bin doch nicht konservativ genug“, sagte sie einem Parteifreund. Da erwiderte der: „Konservativ sind wir selber genug. Du musst dafür sorgen, dass unsere Töchter wieder CDU wählen.“ Merkel sprach es nicht aus, als sie das in Augsburg erzählte, aber ihr Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel, was ihr Fazit ist: Habe ich ja auch geschafft.
Dennoch. Wer Merkel in diesen Tagen beobachtet, sieht vor allem eins: Sie spürt das (nahe) Ende. „Alle Versuche, dass diejenigen, die heute oder in der Vergangenheit tätig waren, ihre Nachfolge bestimmen wollten, sind immer total schiefgegangen“, hat sie gerade selber gesagt. Total schiefgegangen, das hieße: Merz wird ihr Nachfolger, dreht die Uhr zurück, kriegt die AfD klein und lässt die Merkel-Jahre wie eine Verirrung ausschauen.
Deswegen hofft Merkel so darauf, dass mit AKK doch eine Art Klon von ihr auf sie folgt, auch wenn diese sie wohl ebenfalls bald stürzen würde. Das wäre ein halb schiefgegangener Abschied.
Doch da gibt es ja noch ein anderes Szenario, über das Berlin gerade tuschelt. Zeit-Journalist Bernd Ullrich bringt es so auf den Punkt: „Gewinnt Merz, wird Habeck Kanzler.“ Ein CDU-Chef Merz, so geht die These, würde den Grünen bei baldigen Neuwahlen weiteren Auftrieb verleihen. Und schwups, wäre ein Anti-Macho wie Habeck plötzlich Kanzler, der „cremige“ moderne Mann im Amt.
Merkel wollte immer Schwarz–Grün. So käme Grün-Schwarz. Vielleicht wäre das Merkels ultimative Rache an Merz, der sich nun erst einmal an ihr rächen will.
„House of Cards“ wirkt dagegen: wie ein Kindergarten.