Bundesgesundheitsminister Jens Spahn übt sich an der hohen Kunst der Politik. Dabei geht es nicht um die Bekämpfung des Coronavirus, sondern um eine delikate Mission. Sie betrifft die Eroberung der Macht. Eigentlich sprechen die Umstände gegen ihn, doch der 40-Jährige sieht seine Zeit gekommen und versucht sich am Unmöglichen. Er braucht dafür viel Glück und viel Fingerspitzengefühl. Denn er muss den Verrat üben, ohne als Verräter gebrandmarkt zu werden.
Die Geschichte kennt den Verschwörer Brutus, der im alten Rom Cäsar meuchelte. Als einer der Erzverräter muss er seither in untersten Höllentiefen schmoren (zumindest in Dantes Göttlicher Komödie). Auch wenn es mehr als 2000 Jahre später unblutig zugehen wird, gibt es auch dieses Mal einen Cäsar. Er heißt Armin Laschet, ist Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und Kandidat für den CDU-Vorsitz. Der neue Parteichef hat als Erster ein Zugriffsrecht auf die Kanzlerkandidatur der Union.
Kanzlerkandidatur der Union: Spahn sondiert in den Landesverbänden
Spahn wird eine Woche vor dem Parteitag nicht mehr in das Rennen um den Vorsitz eingreifen. Er arbeitet jetzt an seiner Chance für die kurze Zeit danach. Denn es ist zwar wahrscheinlich, aber nicht sicher, dass der nächste Vorsitzende der CDU und CSU auch als Spitzenkandidat in den Wahlkampf führt. Deshalb sondiert Spahn sachte in den Landesverbänden seiner Partei, bei einzelnen Funktionären. Auch Bild und Der Spiegel berichten darüber.
Das Problem von Jens Spahn ist, dass er Armin Laschet die Treue geschworen hat. Er hat mit dem Ministerpräsidenten ein Duo gebildet, in dem er die Nummer zwei ist. Geschlossen haben sie diesen Pakt im Februar letzten Jahres. Das Coronavirus war in Deutschland angekommen, aber seine Gefährlichkeit noch nicht verstanden. Seinerzeit haben nur wenige erahnt, dass es das Leben derart umstürzen würde.
Chronologie der Corona-Pandemie 2020 in Eilmeldungen
Mehr als 600 Eilmeldungen hat die Deutsche Presse-Agentur bis Dezember 2020 allein zum Corona-Virus gesendet. Die Überschriften dokumentieren die Zeitspanne von den ersten Hinweisen auf eine Ausbreitung der Viruserkrankung bis zu den jüngsten Erfolgen bei der Impfstoffentwicklung. Ein Überblick:
Januar
22.1. WHO ruft wegen Virus in China vorerst keine "internationale Notlage" aus
24.1. Zwei Fälle der neuen Lungenkrankheit in Frankreich nachgewiesen
28.1. Erster Coronavirus-Fall in Deutschland bestätigt
30.1. Coronavirus in China: WHO erklärt internationale Notlage
Februar
15.2. Frankreich meldet ersten Coronavirus-Todesfall in Europa
22.2. Italien will mit Coronavirus betroffene Städte abriegeln
29.2. Erster Coronavirus-Todesfall in den USA
März
9.3. Coronavirus: Landrat meldet ersten Todesfall in Deutschland
11.3. WHO bezeichnet Verbreitung des neuen Coronavirus als Pandemie
12.3. USA erlassen wegen Coronavirus 30-tägigen Einreisestopp aus Europa
12.3. CDU verschiebt Parteitag wegen Corona-Krise
12.3. Merkel: Wegen Coronavirus auf Sozialkontakte weitgehend verzichten
12.3. Bund und Länder: Ab Montag alle planbaren Operationen verschieben
13.3. UEFA stoppt vorerst Spielbetrieb im Fußball-Europapokal
13.3. NRW schließt nächste Woche alle Schulen
(plus 14 weitere Eilmeldungen zu Schulschließungen in anderen Bundesländern)
13.3. DFL: Fußball-Bundesliga stellt Spielbetrieb vorerst ein
13.3. Trump ruft wegen Coronavirus nationalen Notstand aus
16.3. Regierung schlägt Schließung von Läden vor - Supermärkte aber offen
17.3. Maas startet Rückholaktion für im Ausland festsitzende Deutsche
17.3. Bundesregierung spricht weltweite Reisewarnung aus
17.3. Fußball-EM wegen Coronavirus um ein Jahr verschoben
17.3. Nur noch EU-Bürger sollen nach Deutschland reisen dürfen
18.3. Österreich kontrolliert ab Mitternacht Grenze zu Deutschland
19.3. Coronavirus-Pandemie: Italien meldet mehr Tote als China
21.3. Mietern soll in Krise nicht gekündigt werden dürfen
22.3. Bund und Länder wollen Restaurants unverzüglich schließen
24.3. IOC bestätigt: Olympia in Tokio wird verschoben
25.3. Historisches Hilfspaket in Corona-Krise beschlossen
27.3. Corona-Pandemie: Italien meldet fast 1000 Tote an einem Tag
April
2.4. Weltweit mehr als eine Million nachgewiesene Coronavirus-Infektionen
6.4. Kreise: Zwei Wochen Quarantäne bei Rückkehr nach Deutschland
6.4. Corona-Infektion: Britischer Premierminister auf Intensivstation
15.4. Bund will Öffnung von Geschäften bis 800 Quadratmeter ermöglichen
15.4. Schulstart in Deutschland schrittweise ab 4. Mai geplant
17.4. Spahn: Ausbruch ist beherrschbar geworden
21.4. Saison in Handball-Bundesliga abgebrochen
22.4. Erste klinische Studie zu Corona-Impfstoff in Deutschland zugelassen
23.4. Merkel: Länder in Corona-Krise teils zu forsch
28.4. Nun bundesweite Maskenpflicht auch im Einzelhandel
30.4. Betriebe melden für 10,1 Millionen Menschen Kurzarbeit an
Mai
5.5. Wirtschaftsminister der Länder wollen Gastronomieöffnung ab 9. Mai
6.5. Bund will Öffnung aller Geschäfte in Corona-Krise erlauben
6.5. Politik erlaubt Geisterspiele der Fußball-Bundesliga ab Mitte Mai
13.5. Bundesregierung beschließt Lockerung der Grenzkontrollen
15.5. Deutsche Wirtschaft bricht in der Corona-Krise ein
26.5. Bund und Länder einig: Kontaktbeschränkungen bis 29. Juni
Juni
9.6. Deutscher Export bricht im April um mehr als 30 Prozent ein
16.6. Offizielle Corona-Warn-App steht zum Download bereit
17.6. Großveranstaltungen werden mit Ausnahmen bis Ende Oktober verboten
17.6. Schulen sollen nach Sommerferien wieder komplett öffnen können
23.6. Zahlreiche Einschränkungen nach Corona-Ausbruch bei Tönnies
25.6. EU-Kommission genehmigt Rettungspaket für Lufthansa
29.6. Bundestag beschließt Mehrwertsteuersenkung und Familienbonus
Juli
3.7. Arznei Remdesivir erhält europäische Zulassung für Covid-19
7.7. Brasiliens Präsident Bolsonaro mit Coronavirus infiziert
22.7. Corona-Tests bei Einreise aus Risikogebieten sollen Pflicht werden
30.7. Deutsche Konjunktur bricht dramatisch ein
30.7. Historischer Konjunktureinbruch in den USA wegen Corona-Krise
August
11.8. Putin: Russland lässt Impfstoff gegen Coronavirus zu
14.8. Reisewarnung des Auswärtigen Amts für fast ganz Spanien samt Mallorca
27.8. Bund und Länder: Großveranstaltungen bis Ende des Jahres verboten
September
29.9. Feiern in öffentlichen Räumen auf 50 Teilnehmer beschränkt
30.9. Neue Corona-Risikogebiete in elf europäischen Ländern
Oktober
2.10. US-Präsident Trump und First Lady positiv auf Coronavirus getestet
7.10. Länder: Beherbergungsverbot für Reisende aus Risikogebieten
8.10. Corona-Neuinfektionen in Deutschland steigen sprunghaft auf über 4000
14.10. Beschluss: Sperrstunde um 23 Uhr für Gastronomie in Corona-Hotspots
14.10. Bund und Länder wollen striktere Kontaktbeschränkungen in Hotspots
14.10. Frankreich führt Gesundheitsnotstand wieder ein
15.10. RKI meldet Rekordwert bei Corona-Neuinfektionen in Deutschland
21.10. Gesundheitsminister Spahn positiv auf Corona getestet
26.10. CDU-Spitze verschiebt Parteitag zur Vorsitzendenwahl ins nächste Jahr
28.10. Bund und Länder: Beginn von Kontaktbeschränkungen am 2. November
28.10. Bund und Länder wollen Gastronomiebetriebe vorübergehend schließen
November
2.11. Teil-Lockdown startet: Öffentliches Leben wird heruntergefahren
9.11. Biontech veröffentlicht vielversprechende Daten zu Corona-Impfstoff
16.11. Auch US-Konzern Moderna legt positive Daten zu Corona-Impfstoff vor
16.11. Bund und Länder appellieren: Keine privaten Feiern mehr
18.11. Bundestag beschließt Änderungen beim Infektionsschutzgesetz
25.11. Private Zusammenkünfte werden auf fünf Personen begrenzt
25.11. Bund und Länder lockern Kontaktbeschränkungen für Weihnachten
30.11. Moderna will Zulassung für Corona-Impfstoff in EU beantragen
Dezember
1.12. Biontech und Pfizer beantragen EU-Zulassung für Corona-Impfstoff
2.12. Biontech und Pfizer: Großbritannien lässt Corona-Impfstoff zu
2.12. Bund und Länder: Teil-Lockdown wird bis in den Januar verlängert
9.12. Verfassungsschutz Baden-Württemberg beobachtet "Querdenken"-Bewegung
12.12. Corona-Impfstoff von Biontech und Pfizer erhält US-Notfallzulassung
13.12. Bund und Länder beschließen harten Lockdown ab dem 16. Dezember
13.12. Bund und Länder beschließen Versammlungsverbot an Silvester
13.12. Möglichst keine Schul- und Kita-Besuche ab Mittwoch bis 10. Januar
13.12. Bund erhöht Corona-Finanzhilfen für Unternehmen
19.12. Corona-Impfstoff von Moderna erhält Notfallzulassung in den USA
21.12. EMA empfiehlt erste Zulassung eines Corona-Impfstoffs in der EU
21.12. EU-Kommission genehmigt Corona-Impfstoff von Biontech/Pfizer
22.12. Bayern führt Corona-Testpflicht für Reisende aus Risikogebieten ein
(dpa)
Als Gesundheitsminister ist Spahn dadurch qua Amt zum wichtigsten Mann der Bundesregierung geworden. Er hat in dieser Zeit nicht alles richtig gemacht. Da gab es zu Beginn viel zu wenige Masken und Schutzkittel in den Kliniken, dringt das Virus in die Altenheime, und von heute aus betrachtet hätte die Regierung schon im November den harten Zwangsstillstand verhängen müssen. Aber wer könnte behaupten, alles richtig gemacht zu haben im Kampf gegen diese Seuche?
Spahn gehört zu den angesehensten Politikern der Bundesrepublik
Spahn hat unheimlich hart gearbeitet, er erläutert sachlich die Gefährlichkeit des Erregers, ohne Panik zu schüren, und präsentiert sich als Lernender, der auf nicht alles eine Antwort weiß. Das ist ein anderer Spahn als früher, der in der Flüchtlingspolitik die Provokation suchte und sich gegen die Kanzlerin profilieren wollte. Angela Merkel hat dann ihren Widersacher in das Kabinett berufen und mit dem anspruchsvollen Posten des Gesundheitsministers eingebunden. Spahn hörte auf, auf den Putz zu hauen. Glaubt man den Umfragen, gehört er heute zu den angesehensten Politikern der Bundesrepublik. In der Gunst der Wähler liegt er weit vor Laschet, trotz der zuletzt auf ihn niedergehenden Angriffe wegen der schleppend gestarteten Massenimpfung. Die Bühne für Spahn, sie wird nie wieder größer sein als heute. "Ich traue mir den CDU-Vorsitz zu, aber auch alles, was daraus folgt", sagte er im Dezember selbstbewusst dem Nachrichtenportal The Pioneer.
Im Politikbetrieb der Hauptstadt, aber auch in Laschets Lager, verfolgt man aufmerksam jede Positionierung von Spahn. Vielen ist nicht entgangen, dass die CDU-Nachwuchshoffnung – oder eher sein Umfeld, sagen manche – offenbar schon länger nach einem Weg sucht, aus dem gemeinsamen Team auszusteigen, ohne sich den Ruf des Brutus einzuhandeln. Auch lästern einige, dass in der Corona-Krise offenbar "Haltungsnoten mehr zählten als die Ergebnisse".
Denn es erstaunt bei der CDU durchaus, dass Spahn zwar zahlreiche Managementfehler angelastet werden, er in den Umfragen (ähnlich wie Söder, dessen Resultate in Bayern auch nicht so überzeugten) zu den Corona-Gewinnern zählt. Eine Erklärung dafür könnte Spahns kluger Satz sein, man werde einander nach dieser Krise viel verzeihen müssen – weil ihn das gegen Angriffe immunisiert hat. Und schließlich ist Tuschelthema Nummer eins in der Union weniger der aktuelle Zoff zwischen Kanzlerin und Spahn (die beiden waren ohnehin nie Freunde), sondern das offensichtliche Werben von Altmeister Wolfgang Schäuble für jenen Mann, den er einst als Finanzstaatssekretär in seinem Ministerium gefördert hatte.
CDU-Vorsitz: Kämpft Spahn nur für sich oder auch für Laschet?
Laschet hat oft genug klargemacht, dass er seinen Anspruch auf die Nummer eins keineswegs so leicht aufgeben wird, nur weil die Umfragen nicht gut sind. Laschet hatte auch niemand zugetraut, in Nordrhein-Westfalen zu gewinnen. Zuletzt kämpfe Spahn für die Galerie wieder entschiedener für das gemeinsame Team mit Laschet, heißt es. Aber kämpft er nur für sich oder auch für Laschet?
Fest steht: Wird Friedrich Merz CDU-Vorsitzender, müsste Spahn seine Ambitionen auf eine Kanzlerkandidatur für dieses Mal begraben. Auch Norbert Röttgen würde zunächst eigene Ambitionen anmelden, ihm könnte Spahn freilich eine Kanzlerkandidatur noch entreißen. Röttgen selbst hat im Gespräch mit unserer Redaktion gesagt, dass er einem Kandidaten von CDU und CSU mit eindeutig besseren Chancen auf die Macht im Wahlkampf den Vortritt lassen würde.
Selbst unter einem CDU-Chef Laschet hofft Spahn offenbar genau darauf, sollte er in den Umfragen im Frühjahr weiter klar vor diesem liegen. Aber Laschet, so ist immer wieder zu hören, will keineswegs weichen und auch nicht CSU-Mann Markus Söder die Kanzlerkandidatur überlassen. Zeitgeschichtlich interessierte Unionsleute ziehen schon Parallelen zu 1976, als Helmut Kohl als weitaus schwächere politische Figur als etwa Franz Josef Strauß galt, aber trotzdem Kanzlerkandidat der Union wurde – und beinahe eine absolute Mehrheit holte.
Was passiert, wenn Spahns Manöver nicht aufgeht? Jedenfalls sieht er offenbar seine Zukunft nicht in Nordrhein-Westfalen (wo ja im Falle einer Laschet-Kanzlerschaft auch der Posten des Ministerpräsidenten neu zu besetzen wäre), sondern in Berlin. Etwa als starker Finanzminister oder auch als Fraktionschef der Union. So jedenfalls wurde der spektakuläre Kauf einer Millionenvilla in bester Berliner Lage von vielen verstanden – der Spahn im Wahlkampf noch kritische Fragen einbringen dürfte.
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