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30 Jahre nach Attentat: Wolfgang Schäuble: drei Schüsse und ein zweites Leben

30 Jahre nach Attentat

Wolfgang Schäuble: drei Schüsse und ein zweites Leben

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    Seit dem Anschlag ist Wolfgang Schäuble querschnittsgelähmt. Sein Schicksal war für ihn, den Politikbesessenen, nie Grund, sich selbst – und andere – zu schonen.
    Seit dem Anschlag ist Wolfgang Schäuble querschnittsgelähmt. Sein Schicksal war für ihn, den Politikbesessenen, nie Grund, sich selbst – und andere – zu schonen. Foto: Michael Kappeler, dpa (Archiv)

    Den Schrei der Tochter hat er heute noch im Ohr. Christine ist damals gerade einmal 19 Jahre alt, sie hatte geholfen, für ihren Vater einen Auftritt im Gasthof „Brauerei Bruder“ zu organisieren. Wahlkampf, Routine, eine Provinz-Veranstaltung vielleicht sogar. Nichts jedenfalls im Vergleich zu den hochrangigen Treffen, die sonst noch im Terminkalender in diesen Tagen stehen. Doch dann fallen drei Schüsse. „Christine hat von der Türe aus alles gesehen und dachte, ihr Vater ist tot“, erinnert sich Hans Peter Schütz. Der Mann, der an diesem Abend am Boden liegt, ist Wolfgang Schäuble, Christine seine älteste Tochter.

    Vor 30 Jahren, am 12. Oktober 1990, wird der CDU-Politiker und damalige Bundesinnenminister Opfer eines Attentats. Der heute 81-jährige Schütz ist der einzige Journalist, der während des Attentats vor Ort war. Schütz arbeitet damals als Redakteur für das Magazin Stern, begleitet Schäuble bereits seit Jahren auf dessen politischen Lebensweg. Und nun liegt er vor ihm, getroffen von Pistolenkugeln, blutend, schwer verletzt, irgendwo zwischen Leben und Tod. Die verstörte Tochter, die hilflosen Polizisten. „Ich war völlig fassungslos“, sagt Schütz. „Ich habe mich neben ihn gekniet und habe seinen Kopf angehoben.“ Aus der Wunde zwischen Ohr und Kinnwinkel sickert Blut. „Ich habe kein Gefühl mehr in den Beinen“, flüstert Schäuble. Später stellt sich heraus, dass ein geistig verwirrter Mann aus nächster Nähe auf den Politiker geschossen hat.

    Wolfgang Schäuble: Der sportliche Mann sitzt plötzlich im Rollstuhl

    Die Tat wirkt bis heute nach. Sie macht den 12. Oktober für den aufstrebenden CDU-Politiker zum Schicksalstag. Die Schüsse reißen ihn aus seinem bisherigen Leben. Und zwingen ihn in den Rollstuhl. Das Attentat, wenige Tage nach der Deutschen Einheit, schreckt damals die Republik auf. Es ereignet sich in Schäubles Wahlkreis. Der Politiker und Vater von vier Kindern, der seit 1972 für den Ortenaukreis im Bundestag sitzt, lebt vom Tatort nur wenige Kilometer entfernt. Er ist in der Region aufgewachsen.

    Im Gasthof „Brauerei Bruder“ in der Kleinstadt Oppenau im mittleren Schwarzwald hält Schäuble an diesem Abend vor 250 bis 300 Zuhörern eine Wahlkampfrede. Die Bundestagswahl 1990, die erste gesamtdeutsche Wahl nach der Wiedervereinigung, steht an. Nach der Veranstaltung bleibt Schäuble noch eine Weile. Zahlreiche Anwesende in dem kleinen Saal des Gasthauses sind dem damaligen Vertrauten von Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) persönlich bekannt. „Die Stimmung war gut“, erinnert sich einer, der damals dabei war. Nur sechs Wochen zuvor hatte Schäuble den Vertrag zur Deutschen Einheit unterzeichnet – ein Höhepunkt seiner politischen Karriere. Der Badener Schäuble gilt als Architekt des Einheitsvertrags.

    Als Schäuble kurz nach 22 Uhr, umringt von zahlreichen Menschen den Saal der Gaststätte verlässt, nähert sich ein damals 37 Jahre alter Mann, der bis dahin unauffällig im Publikum gesessen hatte. Am Ausgang zieht der geistig Verwirrte einen Revolver und feuert aus knapp einem halben Meter Entfernung drei Schüsse ab. Zwei davon treffen Schäuble in den Rücken und am Hals. Die dritte Kugel bohrt sich in den Körper eines Personenschützers, der sich vor den zu Boden sinkenden Schäuble wirft und ihm damit mutmaßlich das Leben rettet. Der 28 Jahre alte Beamte wird von einer Kugel getroffen und verletzt. „Ich hatte Glück, dass ich nicht getroffen wurde, ich lief direkt neben Schäuble“, sagt Stern-Journalist Hans Peter Schütz.

    Schäuble liegt im Koma, als der Bundeskanzler kommt

    „Wir waren total geschockt. Nach einem kurzen Moment brach ein wildes Durcheinander los“, erinnert sich ein früherer Mitarbeiter Schäubles, der damals dabei war. Schäuble verliert viel Blut und kurz nach der Tat das Bewusstsein. Doch Schäuble überlebt. Lebensgefährlich verletzt wird er zunächst ins Kreiskrankenhaus Oberkirch und später mit dem Rettungshubschrauber in die Universitätsklinik Freiburg gebracht, wo Ärzte fünf Stunden um sein Leben ringen. Er ist vom dritten Brustwirbel abwärts gelähmt.

    Schäuble wird auf die Intensivstation der Universitätsklinik in Freiburg verlegt, die Ärzte ringen um sein Leben.
    Schäuble wird auf die Intensivstation der Universitätsklinik in Freiburg verlegt, die Ärzte ringen um sein Leben. Foto: Dieter Roosen, dpa (Archiv)

    Bundeskanzler Kohl, der am Tag nach dem Attentat nach Freiburg an Schäubles Krankenbett eilt, zeigt sich geschockt über den Gesundheitszustand seines damals Vertrauten und wichtigsten Ministers, der im Koma liegt. „Ich hoffe und vertraue auf die Kunst der Ärzte. Aber dies ist auch eine Stunde, in der man das Beten lernt“, sagt Kohl. Auch der damalige SPD-Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine, der knapp ein halbes Jahr zuvor bei einer Wahlkampfkundgebung bei einem Angriff mit einem Messer schwer verletzt wurde, kommt nach Freiburg und ist schockiert.

    Den Abschied aus der Politik lehnt Wolfgang Schäuble ab

    Schäuble äußert sich lange nicht zu den Stunden, in denen er sich zwischen Leben und Tod bewegte. Vor fünf Jahren, in einer Fernsehdokumentation der ARD, gewährte er Einblicke. „Als ich aus dem künstlichen Koma aufgewacht bin, war mir klar, dass ich gelähmt bin“, erinnerte sich Schäuble. „Warum habt ihr mich nicht sterben lassen?“, fragt er seine Tochter.

    Schäuble, der Vollblut-Politiker, der Unermüdliche, der Tennisspieler, der Wahlkämpfer, ist auf einmal ein Mann mit Behinderung. Er selbst benutzt immer wieder sogar das Wort „Krüppel“. „Als er damals vor mir am Boden lag, habe ich nicht einmal eine Sekunde geglaubt, dass es für ihn weitergehen könnte – das war überhaupt nicht vorstellbar“, sagt Stern-Journalist Hans-Peter Schütz.

    November 1990, erste Pressekonferenz von Wolfgang Schäuble nach dem Attentat.
    November 1990, erste Pressekonferenz von Wolfgang Schäuble nach dem Attentat. Foto: Norbert Försterling, dpa (Archiv)

    Doch Schäuble gibt nicht auf. Mit eiserner Disziplin nimmt er nur wenige Monate nach dem Attentat im Rollstuhl seine Amtsgeschäfte wieder auf – bisweilen bis an die Grenze der Erbarmungslosigkeit gegenüber sich selbst. Gesundheitlich zugute kommt ihm, dass er vergleichsweise jung und zudem sehr sportlich ist. Und er gilt als äußerst willensstark. „Er hat ziemlich früh sein Schicksal angenommen“, erinnert sich Ehefrau Ingeborg an die Tage im Krankenhaus: „Es war großartig zu sehen, wie er sich zurück ins Leben kämpft.“ Den Abschied aus der Politik, zu dem ihm die Familie rät, lehnt er ab. Im kommenden Jahr will er, der inzwischen 78 Jahre und Bundestagspräsident ist, erneut für den Bundestag kandidieren. Dabei ist er schon heute der am längsten amtierende Abgeordnete.

    Der Attentäter leidet unter Verfolgungswahn

    Den Sicherheitsbehörden bringen die Schüsse von Oppenau ein Umdenken. Bis dahin galten für den staatlichen Personenschutz Terroristen als bedeutendste Bedrohung für Politiker, vor allem wegen der mörderischen Rote Armee Fraktion (RAF) in den Jahren zuvor. Heute sind es psychisch kranke Einzeltäter, so wie der Schäuble-Attentäter oder die Lafontaine-Attentäterin, die als Gefahr gesehen werden.

    Schäubles Attentäter stammt wie sein Opfer aus der Region, er war bereits vor dem Attentat in psychologischer Behandlung. Er wird nach den Schüssen auf Schäuble überwältigt und festgenommen. Im Mai 1991 wird er in Offenburg wegen des Schäuble-Attentats verurteilt. Weil das Gericht bei ihm einen Verfolgungswahn feststellt, wird er in eine geschlossene psychiatrische Anstalt eingewiesen. Schäuble hat er später in Briefen und in einem Radiointerview um Entschuldigung gebeten. Die Waffe und die Patronen hatte er aus dem Waffenschrank seines Vaters, einem örtlichen Bürgermeister, entwendet. Im Herbst 2004 wird er aus der Psychiatrie entlassen, im vergangenen Jahr ist er nach schwerer Krankheit gestorben.

    Und Wolfgang Schäuble? Hat ihn das Attentat härter werden lassen? Zumindest ungeduldiger, gibt der Politiker selbst bisweilen zu. „Aber er war eigentlich schon immer so, wie er heute ist – ein preußischer Alemanne, ein Mann mit Grundsätzen“, sagt Hans Peter Schütz. Mitleid mit sich selbst ist keine Charaktereigenschaft, die Schäuble pflegt. „Mitleid ist keine tragfähige Grundlage für politische Beziehungen und Diskussionen“, sagt er lieber. Und dann folgt ein typischer Schäuble: „S’ isch wie’s isch!“.

    Die Gaststätte, in der die Tat geschah, wurde abgerissen

    In Oppenau erinnert nichts mehr an das Attentat vor 30 Jahren. Den traditionsreichen „Gasthof Brauerei Bruder“ mitten im Ort, in dessen Saal es zum Attentat kam, gibt es nicht mehr. Er wurde 2004 abgerissen. Im selben Jahr starb der Personenschützer Schäubles, der sich am Abend des Attentats in die Schussbahn warf und den letzten der drei Schüsse abfing. Er erlag, im Alter von 42 Jahren, den Folgen einer Krebserkrankung.

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