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Sprachwissenschaft: Ein Stammbaum der Gebärdensprachen

Sprachwissenschaft

Ein Stammbaum der Gebärdensprachen

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    Das Wort "beraten" in deutscher Gebärdensprache - gezeigt Gebärdendolmetscherin Kathrin-Maren Enders.
    Das Wort "beraten" in deutscher Gebärdensprache - gezeigt Gebärdendolmetscherin Kathrin-Maren Enders. Foto: Arne Dedert, dpa

    Schon viel ist geforscht worden zur Entstehung und Verbreitung von Sprachen. Ein Bereich bleibt oft unberücksichtigt: Gebärdensprachen. Für 19 Gebärdensprachen aus Gehörlosengemeinschaften weltweit hat ein Forschungsteam nun eine Art Stammbaum erstellt. Geopolitische Kräfte prägten demnach zwei große Sprachfamilien: die europäischen und die asiatischen Gebärdensprachen. Der Stammbaum spiegele zudem den weitreichenden Einfluss der französischen Gebärdensprache wider, erläutern die Wissenschaftler im Fachjournal Science.

    Gebärdensprachen sind natürlich entstehende, vollwertige Sprachen wie die gesprochenen und haben sich überall auf der Welt entwickelt, wie das Forschungsteam erläutert. „Gebärdensprachen waren wahrscheinlich schon immer Teil der menschlichen Existenz.“ Derzeit existieren nach Schätzungen weltweit etwa 7000 Sprachen. Rund 200 davon sind Gebärdensprachen, hinzu kommen etliche Dialekte. 

    Die deutsche Gebärdensprache ist sehr variantenreich

    Die Deutsche Gebärdensprache (DGS) zum Beispiel sei sehr variantenreich, erklärte Liona Paulus vom Institut für Deutsche Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser (IDGS) der Universität Hamburg, die nicht an der Studie beteiligt war. Für die Farbe „grün“ etwa gebe es 17 verschiedene Gebärden, also Varianten. Genutzt werden in Gebärdensprachen neben Gebärden an sich auch die Mimik, das Mundbild lautlos gesprochener Wörter sowie Wechsel der Körperhaltung. Worte, für die es keine Gebärde gibt, werden mit Fingerzeichen buchstabiert (Fingeralphabet). Und Gebärdensprachen sind eigenständig. Die Deutsche Gebärdensprache zum Beispiel ist nicht etwa Deutsch in Gebärdenform, sondern eine Sprache mit eigener Grammatik, wie sie von Gehörlosen in Deutschland verwendet wird. 

    Wehende Haartolle - der Gebärdenname von Donald Trump

    Regelmäßig werden neue Gebärden ersonnen und in der Gemeinschaft abgestimmt – etwa, wenn ein Mensch an Popularität gewinnt: Beim ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump zum Beispiel war es die wehende Haartolle, die in der Deutschen Gebärdensprache zum Gebärdennamen wurde. Zudem etablieren sich demnach wie in jeder Sprache neue Wörter und Begriffe je nach Bedarf oder Trends – in den vergangenen Jahren zum Beispiel rund um das Thema Internet. Dabei gibt es regional große Unterschiede. Wer die Deutsche Gebärdensprache nutzt, versteht in China erst mal ebenso wenig wie jemand, der Deutsch spricht und kein Chinesisch kann. Allerdings erleichtert die visuelle Ausrichtung der Gebärdensprachen eine Verständigung: Es gebe oft ein hohes Maß an sogenannter Ikonizität, also Ähnlichkeit zwischen sprachlicher Form und Bedeutung, erklärte Pamela Perniss von der Universität Köln, die nicht an der Studie beteiligt war. Beispiele seien die DGS-Gebärden für „trinken“ – als würde man einen Becher halten und etwas trinken – sowie „Tisch“– flache Hände bewegen sich horizontal nach außen.

    Wie jede andere Sprache verändert sich eine Gebärdensprache mit der Zeit– anders als zumindest bei den führenden Lautsprachen üblich gibt es aber kaum schriftliche Aufzeichnungen wie Bücher, an denen sich solche Entwicklungen nachvollziehen lassen. Vor Videoaufzeichnungen gab es nur eingeschränkt die Möglichkeit, Gebärdensprachliches für die Nachwelt festzuhalten. Ein weit verbreitetes Schriftsystem für eine Gebärdensprache habe es nie gegeben, so das Forschungsteam. Historische Zeichnungen und Beschreibungen gebe es nur sehr spärlich.

    Die Wissenschaftlerinnen verglichen 100 Kernvokabeln von 19 Sprachen

    Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um Natasha Abner von der University of Michigan in Ann Arbor (USA) nutzen nun eine angepasste Form der sogenannten Swadesh-Liste. Diese Zusammenstellung von 100 Kernvokabeln wird zum Vergleich von Sprachen verwendet. Zu den 19 berücksichtigten zählten neben der Deutschen unter anderem die Spanische, Amerikanische, Chinesische, Japanische und Russische Gebärdensprache. Für Europa liege der Fokus auf den Sprachen, die in den Gehörlosengemeinschaften im Umfeld der ersten Schulen für Gehörlose im Europa des 18. Jahrhunderts entstanden.

    In einer Datenbank wurden für jeden der 100 Begriffe in jeder der 19 Sprachen grundlegende Kennzeichen erfasst: unter anderem, ob für die Gebärde eine oder beide Hände genutzt werden, wie viele Finger einbezogen sind, wo vor dem Körper die Gebärde ausgeführt wird und welche Bewegungen in welche Richtung durchgeführt werden. Der computergestützte Vergleich ergab für die 19 Sprachen zwei unabhängige Sprachfamilien: eine europäische und eine asiatische. Frühere Belege aus der Sprachgeschichte und linguistische Analysen stützen diese Trennung: Es gebe abgesehen von einzelnen Kontakten zwischen europäischen Bildungszentren und den aufstrebenden Bildungssystemen in China und Japan keine historischen Hinweise auf einen langfristigen Austausch zwischen europäischen und asiatischen Gebärdensprachen. 

    Die Untersuchung bestätigt demnach den großen Einfluss der französischen Gebärdensprache: „Während der schnellen Expansion der Gehörlosenbildung im 18. und 19. Jahrhundert hatten viele Schulen und Lehrer Verbindungen zu Frankreich und dem französischen Bildungssystem.“ Generell zeige die Studie, dass geopolitische Kräfte auch in der Geschichte der Gebärdensprache geografische Gegebenheiten oft übertrumpften. „Die ehemaligen Regionen des Königreichs Preußen und der Österreichisch-Ungarischen Monarchie spiegeln sich zum Beispiel in einem abgeleiteten Cluster mitteleuropäischer Zeichensprachen wider: Tschechische, Österreichische und Deutsche Gebärdensprache.“ 

    Die Sign-Language wird fast überall auf der Welt verstanden

    Wie andere Sprachen seien auch die Gebärdensprachen von der Geschichte der Länder und Völker beeinflusst, die sie benutzen. Dazu gehören auch schlimme Kapitel: Als „Affensprache“ verunglimpft wurden Gebärdensprachen im 19. Jahrhundert stark bekämpft, selbst gehörlose Kinder untereinander durften sie nicht mehr nutzen. Aus dem Unterricht wurden sie weltweit viele Jahrzehnte lang verbannt. Von den Nationalsozialisten wurden Gehörlose systematisch sterilisiert oder ermordet. Heutzutage spiegeln sich internationaler Reiseverkehr und Globalisierung in der Sprachentwicklung wider: mit dem Phänomen der International Sign Language, die spontan bei internationalen Gehörlosen-Events entstanden sei und fast überall auf der Welt verstanden werde, wie Paulus erklärt. „Etwas Vergleichbares gibt es in Lautsprachen nicht.“ Anders als Englisch als globale Sprache sei die International Sign Language nicht gezielt eingeführt worden und werde auch nicht in Schulen gelehrt. (dpa)

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