Das Rätsel um den Spion, der aus dem Augsburger Hörsaal kam

Foto: Silvio Wyszengrad
09.07.2021

Ilnur N. arbeitet an der Augsburger Uni. Ein Russe überredet ihn, Forschungsergebnisse zu verraten. Lesen Sie hier noch einmal, wie die Beamten ihm auf die Spur kamen.

Die Beamten des Spezialeinsatzkommandos kennt man in martialischer Montur mit Sturmhaube, Schutzausrüstung, gezückter Maschinenpistole. Sie stürmen dann mit viel Getöse eine Wohnung, etwa um einen Geiselnehmer zu überwältigen. Am 18. Juni, einem Freitag, haben SEK-Beamte in Augsburg jedoch einen Einsatz der anderen Art. Ganz in der Nähe des Königsplatzes, mitten in der Innenstadt, sollen sie diskret einen jungen Mann festnehmen. Die Öffentlichkeit darf davon möglichst nichts mitbekommen. Denn der junge Mann ist vermutlich ein russischer Spion. Was damals noch ein Verdacht ist, hat sich für die Ermittler inzwischen bestätigt. Und es sorgt für diplomatische Verstimmungen auf hoher Ebene.

Denn der junge Mann mit dunklem Bart und kurzen Haaren ist nicht allein an jenem Freitag. Er trifft sich mit seinem Agentenführer. Um möglichst wenig Staub aufzuwirbeln, warten die Spezialkräfte ab, bis die beiden Männer in eine Seitengasse gehen. Dann greifen sie zu. Für Ilnur N., einen 29 Jahre alten Mitarbeiter der Universität Augsburg, haben die Beamten schon einen Haftbefehl des Generalbundesanwalts in der Tasche. N. wird festgenommen und nach Karlsruhe gefahren, wo ihm am nächsten Tag der Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof den Haftbefehl eröffnet. Der Vorwurf lautet: geheimdienstliche Agententätigkeit für Russland. Ein Straftatbestand, auf den bis zu fünf Jahre Gefängnis stehen.

Für die russische Spionage muss Ilnur N. ein interessanter Kopf gewesen sein. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Materials Ressource Management hatte er Einblick in Forschungsergebnisse zu Faserverbund-Werkstoffen. Auf das Material setzt man in Augsburg große Hoffnungen, es soll Firmen und Jobs in die Stadt bringen. Die modernen Werkstoffe sollen leicht sein, aber gleichzeitig großen Belastungen standhalten. Ideal also für den Bau von Autos, Flugzeugen – und auch für die Raumfahrt. N. soll an einem Projekt für die Raumfahrt beteiligt gewesen sein. Die Russen interessierten sich offenbar besonders für Werkstoffe, die extremen Temperaturschwankungen und großer Kälte standhalten können.

Die Bundesanwaltschaft macht den Fall an der Uni Augsburg von sich aus öffentlich

Wenige Tage nach der Festnahme von Ilnur N. macht die Bundesanwaltschaft mit einer Pressemitteilung den Fall von sich aus öffentlich. Zwischen Oktober 2020 und Juni 2021 soll sich Ilnur N. mindestens drei Mal mit einem Angehörigen eines russischen Auslandsgeheimdienstes getroffen haben, heißt es darin. Und weiter: „Jedenfalls bei zwei dieser Treffen gab er Informationen aus dem Herrschaftsgebiet der Universität weiter. Im Gegenzug hierfür erhielt der Beschuldigte Bargeldzahlungen.“

Doch bei derlei Zwischenfällen im Schattenreich der Spionage empfiehlt es sich immer auch, darauf zu achten, was nicht in den Pressemitteilungen steht. So findet sich in der Verlautbarung der obersten deutschen Ankläger keine Silbe davon, dass Ilnur N. bei seiner Festnahme nicht allein war. Von einem zweiten Mann ist nicht die Rede, obwohl dieser nach den Erkenntnissen der Ermittler ein Geheimdienstler ist.

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Foto: Alexei Nikolsky, dpa
Foto: Alexei Nikolsky, dpa

Präsident Wladimir Putin war selbst 1998/99 ein Jahr lang Chef eines Geheimdienstes in Russland.

Doch eine weitere Strafverfolgung oder gar eine Festnahme kam nicht infrage. Denn der Mann hat einen Diplomatenpass. Nach Recherchen unserer Redaktion ist er Mitarbeiter des russischen Generalkonsulats in München und genießt als solcher diplomatischen Schutz.

Im Auswärtigen Amt in Berlin ist man über derlei Treiben zwar informiert – aber wenig amüsiert. „Das Auswärtige Amt geht natürlich jedem Hinweis auf eine Verletzung des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen nach“, heißt es auf Anfrage. Tatsächlich ist es weltweit Usus, dass Spione an Botschaften oder Konsulate angedockt sind. Dass der mutmaßliche Spion Ilnur N. wahrscheinlich direkt aus dem russischen Generalkonsulat in München gesteuert wurde, überrascht den Geheimdienstexperten Christopher Nehring von der Universität Potsdam in keinster Weise. Er sagt: „Das ist eine viel praktizierte Taktik.“

Was das Besondere am Augsburger Spionage-Fall ist

Botschaften oder Konsulate dienten zum einen der Tarnung, hätten aber zum anderen den Vorteil, dass man Geheimdienstmitarbeiter mit Diplomatenpässen ausstatten kann, die sie dem Zugriff der deutschen Ermittlungsbehörden entziehen. Nehring, der auch wissenschaftlicher Leiter des Deutschen Spionagemuseums in Berlin war, verweist darauf, dass viele Agenten russischer Geheimdienste den deutschen Behörden bekannt sind. „Bis zu einem gewissen Grad lässt man das laufen und beobachtet.“

Das Spannende und Interessante am Augsburger Fall sei, dass er öffentlich gemacht wurde und der mutmaßliche Spion Ilnur N. festgenommen wurde. „Solche einfachen Fälle werden normalerweise diskret unter dem Radar der Öffentlichkeit geregelt“, erklärt Nehring. Der Agentenführer werde dann beispielsweise geräuschlos aus Deutschland abgezogen und die Festnahme eines Verdächtigen nicht groß publik gemacht.

Warum ist es hier anders gelaufen? Dazu lohnt ein Blick auf die politische Großwetterlage. Das Verhältnis zwischen Russland und Europa hat sich in den vergangenen Jahren, spätestens seit dem Ukraine-Konflikt, deutlich abgekühlt. Und so haben sich nach Einschätzung von Experten auch die Beziehungen der Geheimdienste verschlechtert. „Zumal die Russen zuletzt einige scharfe Aktionen in Europa ausgeführt haben“, sagt Nehring. Dazu zählt beispielsweise der Mord im Berliner Tiergarten, der im Auftrag Russlands geschehen sein soll oder auch der Fall des offenbar vergifteten Kremlkritikers Alexej Nawalny. „Man will dann ein Zeichen setzen, dass man derlei Aktionen nicht toleriert und beginnt, auch kleinere Fälle zu verfolgen und öffentlich zu machen“, berichtet der Geheimdienstexperte.

Zumal die Ermittler nach Recherchen unserer Redaktion inzwischen auch schon einiges mehr wissen als bei der Festnahme. Ilnur N., heißt es, sei in der vorigen Woche von Staatsschutzbeamten des Landeskriminalamtes vernommen worden. Der Wissenschaftler soll ausführlich erzählt haben, die Vernehmung ging demnach mehrere Stunden. N.s Augsburger Rechtsanwältin Alexandra Gutmeyr bestätigt auf Anfrage, dass ihr Mandant inzwischen Angaben zur Sache gemacht habe. Zum Inhalt seiner Aussage äußert sie sich aber bisher nicht.

Der Fall Ilnur N. klingt nach klassischer Wissenschaftsspionage

Was im Fall Ilnur N. passiert sein soll, klingt nach klassischer Wissenschaftsspionage. Und hier ist Deutschland offenbar nicht sonderlich gut geschützt. Wissenschaftsspionage sei Alltagsgeschäft der Geheimdienste, sagt Geheimdienstexperte Nehring. Die deutsche Forschungslandschaft sei schon seit Jahrzehnten im Visier nicht nur russischer Spione. Die Arbeit für Agenten dort ist einfacher, weil es keine speziellen Sicherheitsvorkehrungen gibt. Die Spionageabwehr konzentriert sich in Deutschland auf die besonders sensiblen Bereiche Militär und Politik. Und doch gelang es nun, Ilnur N. als mutmaßlichen Spion zu enttarnen.

Nach seiner Festnahme durchsuchen die Ermittler auch sein Büro an der Augsburger Universität. Die Materialwissenschaftler sitzen in einem Neubau, der nach außen hin abweisend wirkt. Die Fassade ist eintönig, schmale Fenster und weißes Metall wechseln sich ab. Hinter der Fassade befinden sich Büros und Maschinen. Anders als in vielen Bereichen einer Universität sind die Türen hier verschlossen. Doch Ilnur N. hatte Zugang. Das machte ihn offenbar für den russischen Auslandsgeheimdienst SWR (Sluschba Wneschnei Raswedki, zu deutsch: Dienst der Außenaufklärung der Russischen Föderation) so interessant.

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Foto: Silvio Wyszengrad
Foto: Silvio Wyszengrad

Das Institut für Materials Ressource Management an der Universität Augsburg. Hier hatte Ilnur N. als wissenschaftlicher Mitarbeiter Einblick in Forschungsergebnisse.

Ilnur N. stammt aus Russland, er studiert in Moskau und später in Augsburg Materialwissenschaften. Nach dem Studium, so steht es in seinem Lebenslauf, geht er zunächst zurück nach Russland, dann verschlägt es ihn wieder an den Lech. Er macht ein Praktikum beim Fraunhofer-Institut, ab 2018 arbeitet er dann bei den Material-Experten der Universität.

Dass der freundliche junge Mann, der im Augsburger Stadtteil Pfersee in einer kleinen Einzimmer-Wohnung lebt, ein Spion sein könnte, ahnt offenbar niemand. Als er an der Uni anfängt, ist er das wohl auch noch nicht. Es beginnt offenbar irgendwann 2019, bei einem Ausflug mit Freunden ins Allgäu. Dort kommt N. – zumindest für ihn zufällig – mit einem Mann ins Gespräch, der auch russisch spricht. Der Mann zeigt sich interessiert, erzählt, dass er ab und zu in Augsburg sei und lässt sich N.s Telefonnummer geben. Später dann gibt es ein erstes Treffen in einem Augsburger Lokal.

Unklar ist, was der russische Spion in Augsburg bisher wirklich verraten haben soll

Was und wie viel Ilnur N. bisher wirklich verraten haben soll, darüber schweigen sich die Ermittler aus. Sie sagen auch nichts dazu, ob sich der Mann aus dem Konsulat N. gegenüber als Agent zu erkennen gab – oder ob er ihm womöglich eine andere Geschichte erzählte.

Ilnur N. soll in Augsburg jedenfalls an einem Forschungsprojekt mit dem Namen „MakeKryo“ beteiligt gewesen sein. Vereinfacht gesagt geht es dabei um die Frage, wie man Materialien auf ihre Haltbarkeit bei extrem niedrigen Temperaturen testen kann. Temperaturen also, wie sie im Weltraum herrschen. Deshalb ist das Projekt auch Teil des nationalen Raumfahrtprogramms. Es läuft laut Internetseite noch bis Juli 2022. Genaueres ist aber derzeit nicht zu erfahren. An der Universität gibt man sich ziemlich wortkarg. Eine Sprecherin sagt: „Wir möchten weder die Ermittlungen beeinträchtigen noch irgendwelche Spekulationen forcieren.“

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Foto: Alexander Zemlianichenko/AP, dpa
Foto: Alexander Zemlianichenko/AP, dpa

Sergej Naryschkin ist Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes SWR.

Spekulieren kann man aktuell auch nur darüber, wie die Ermittler auf den Spionagefall gestoßen sind. Einiges spricht aber dafür, dass der Verfassungsschutz dabei geholfen haben könnte. Womöglich hatte der Inlandsgeheimdienst schon länger den Verdacht, der Konsulatsmitarbeiter aus München könne ein russischer Agent sein. Geheimdienstexperte Nehring vermutet, dass die deutschen Sicherheitsbehörden Ilnur N.s Agentenführer bereits im Visier hatten, und dass dieser Mann überwacht wurde. So könnte auch der junge Mann von der Augsburger Uni auf das Radar geraten sein.

Der russische Geheimdienst wirbt mit "Liebe" und "Romantik"

Das würde auch erklären, warum der Generalbundesanwalt in einer Pressemitteilung davon sprach, dass es drei Treffen zwischen den beiden gegeben habe und bei zumindest zweien dieser Treffen gegen Bargeld Informationen von der Uni weitergegeben worden seien. Allzu viel Bargeld war es offenbar noch nicht. Die Rede ist von einem vierstelligen Euro-Betrag.

Die Russen selbst sind gar nicht so zurückhaltend mit Informationen über ihren Auslandsgeheimdienst. Der SWR hat sogar eine eigene Homepage, auf der er seine Ziele recht offen kommuniziert. So gehe es darum, mit nachrichtendienstlichen Aktivitäten die wirtschaftliche Entwicklung, den wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt des Landes und die militärisch-technische Sicherheit der Russischen Föderation zu fördern.

Bereitwillig wird auch erzählt, dass ein eigenes Gesetz den Agenten Befugnisse gibt. Dazu gehört zum Beispiel „der Aufbau vertraulicher Kooperationsbeziehungen mit Personen, die hierzu freiwillig eingewilligt haben“. Auf Grundlage des Gesetzes könne der SWR auch „offene und verdeckte Methoden anwenden, die weder dem Leben und der Gesundheit von Menschen noch der Umwelt schaden sollen“. Eine Anfrage unserer Redaktion zum Fall Ilnur N. lässt das Pressebüro des SWR trotz aller scheinbaren Transparenz unbeantwortet.

Offensiv wird auf der Homepage auch um feste Mitarbeiter geworben. Der SWR wird als einer der besten Geheimdienste der Welt gepriesen. Entsprechend streng ist das Auswahlverfahren. Grundvoraussetzung für eine Einstellung ist: Der Bewerber muss jung sein und ein Bürger der Russischen Föderation sein, sein Heimatland aufrichtig lieben, und sich „von der Romantik des Geheimdienstberufs angezogen fühlen“. Da soll offenkundig schon ein wenig James-Bond-Atmosphäre aufkommen. Wenn man sich alles gut überlegt hat und bereit ist, Geheimdienstoffizier zu werden, solle man nicht zögern: „Legen Sie los. Der Weg wird durch das Gehen gemeistert!“, heißt es wie in einem Propagandafilm des KGB aus Zeiten des Kalten Krieges.

Für Ilnur M. führte der Weg erst einmal in die Untersuchungshaft. Er sitzt im Gefängnis in Gablingen bei Augsburg.

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