Die Europäische Zentralbank (EZB) wartet trotz eines schnelleren Rückgangs der Inflation mit der ersten Zinssenkung seit Sommer 2022 ab. Ein Kurswechsel könnte bei der Sitzung am 6. Juni erfolgen, wie Notenbank-Präsidentin Christine Lagarde am Donnerstag in Frankfurt nach der Sitzung des EZB-Rates andeutete.
Die jüngste Entwicklung der Teuerungsrate mache die Euro-Währungshüter zuversichtlicher, aber "nicht hinreichend zuversichtlich", sagte Lagarde. "Wir brauchen eindeutig mehr Beweise und mehr Daten, wir werden im April ein wenig mehr wissen, wir werden im Juni viel mehr wissen." Sie stellte klar: "Wir haben in dieser Sitzung nicht über eine Zinssenkung diskutiert. Wir haben gerade damit begonnen, über die Zurücknahme unserer restriktiven Haltung zu diskutieren." Volkswirte rechnen frühestens im Juni mit einer ersten Zinssenkung, das Tempo könnte aber geringer sein als am Markt erhofft.
Zinsen vorerst unverändert
Am Donnerstag ließ der EZB-Rat die Leitzinsen im Währungsraum der 20 Staaten zum vierten Mal in Folge unverändert: Der wichtigste Zins zur Versorgung der Kreditwirtschaft mit frischem Zentralbankgeld verharrt bei 4,5 Prozent. Der Einlagenzins, den Banken für geparkte Gelder erhalten, beträgt weiterhin 4,0 Prozent.
Im Juli 2022 hatte die EZB die Jahre der Null- und Negativzinsen beendet, um die zeitweise auf Rekordhöhe gekletterte Inflation in den Griff zu bekommen. Zehnmal in Folge schraubte die Notenbank die Zinsen nach oben. Dass Kredite damit mehr kosten, kann die Nachfrage bremsen und hohen Inflationsraten entgegenwirken. Teurere Finanzierungen sind aber zugleich eine Last für Unternehmen und private Investoren. Angesichts schwächelnder Konjunktur mehrten sich zuletzt Forderungen, die Zinsen wieder zu senken.
Inflation auf dem Rückzug
Zudem zeigte bei der Inflationsrate sowohl im Euroraum als auch Deutschland der Trend zuletzt nach unten. Im Euroraum lagen die Verbraucherpreise im Februar 2024 um 2,6 Prozent höher als ein Jahr zuvor. In Deutschland erreichte die jährliche Teuerungsrate im Februar nach vorläufigen Daten mit 2,5 Prozent den niedrigsten Stand seit Juni 2021.
Insgesamt rückt somit das EZB-Ziel von mittelfristig zwei Prozent in Reichweite. Bei diesem Wert sehen die Währungshüter ihr oberstes Ziel erfüllt, für einen stabilen Euro zu sorgen und so die Kaufkraft der Menschen zu erhalten. Lagarde betonte: "Ich sage nicht, wir warten, bis wir bei zwei Prozent sind, bis wir eine Entscheidung treffen."
Denn: Die Kerninflation ohne Energie und Nahrungsmittel ist deutlicher zäher. "Die Inflation ist noch nicht besiegt", mahnte der Chefvolkswirt des Bankenverbandes BVR, Andreas Bley. Die Teuerung bei Dienstleistungen, die auch den weiterhin hohen Anstieg der Löhne und Gehälter widerspiegele, sei noch vergleichsweise hoch.
Auch aus der Wirtschaft kam Zustimmung zum zunächst unveränderten Kurs der Notenbank. "Die weiter sinkende Inflationsrate ist ein Hoffnungsschimmer für die Unternehmen. Für eine Entwarnung ist es aber noch zu früh", äußerte DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben. "Wenn der erfreuliche Abwärtstrend bei der Inflationsrate anhält, sollte dann auch eine Lockerung der Geldpolitik möglich sein. Das wäre besonders für Betriebe im Baugewerbe, die erheblich unter den hohen Bauzinsen leiden, und für alle Unternehmen, die investieren wollen, eine gute Nachricht."
Neue Prognosen: Inflation geht schneller zurück
Für das laufende Jahr rechnet die EZB nun mit einer Teuerungsrate von 2,3 Prozent. In ihrer im Dezember vorgelegten Prognose war die Notenbank noch von 2,7 Prozent ausgegangen. 2025 wird eine Rate von 2,0 (Dezember-Prognose: 2,1) Prozent erwartet.
Für Zinssenkungen spricht auch, dass sich die Aussichten für die Wirtschaft im Euroraum verschlechtert haben. Die EZB erwartet nur noch 0,6 Prozent Wachstum in diesem Jahr, im Dezember waren noch 0,8 Prozent vorhergesagt worden. In den Jahren 2025 (1,5 Prozent) und 2026 (1,6 Prozent) dürfte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wieder kräftiger zulegen.
Sparzinsen bereits wieder gesunken
Viele Geldhäuser haben die Aussicht auf sinkende Leitzinsen in ihren Festgeldangeboten bereits eingepreist. Bundesweit verfügbare Festgeldanlagen mit zwei Jahren Laufzeit bringen einer Verivox-Analyse zufolge im Schnitt aktuell 2,91 Prozent, Anfang Dezember waren es 3,36 Prozent. Auf dem Tagesgeldkonto zahlt gut ein Fünftel (21 Prozent) von 758 Banken und Sparkassen in Deutschland, deren Konditionen das Vergleichsportal ausgewertet hat, entweder gar keine (57 Institute) oder lediglich geringe Zinsen von 0,01 Prozent bis 0,25 Prozent (102 Institute).
Wer 10.000 Euro bei bundesweit aktiven Banken aufs Tagesgeldkonto legt, erhält dafür den Berechnungen zufolge im Schnitt aktuell 1,75 Prozent Zinsen. Sparkassen und Volksbanken zahlen durchschnittlich jeweils 0,62 Prozent. "Natürlich können regionale Kreditinstitute mit einem teuren Filialnetz nicht die höchsten Zinsen im gesamten Markt anbieten", ordnete Verivox-Geschäftsführer Oliver Maier, ein. "Doch dass in der aktuellen historischen Hochzinsphase bei der großen Mehrheit der Volksbanken und Sparkassen nicht einmal ein Prozent drin sind, ist aus Sicht der Sparer nur noch schwer verständlich."
(Von Jörn Bender (Text) und Boris Roessler (Foto))