Frau Professorin Schnitzer, Sie sind die erste Frau an der Spitze des 1873 begründeten „Vereins für Socialpolitik“, einer der größten Organisationen von Wirtschaftswissenschaftlern weltweit. Warum gibt es so wenig bekannte Ökonominnen in Deutschland?
Schnitzer: In meiner Generation – ich bin Jahrgang 1961 – waren nur drei Prozent der wirtschaftswissenschaftlichen Professoren Frauen. Das hat sich seither deutlich verbessert. Heute sind es 20 bis 30 Prozent. Ökonominnen sind im Kommen.
Wie wäre es mit einer Frau an der Spitze der Europäischen Zentralbank als Nachfolgerin von Mario Draghi?
Schnitzer: Eine gute Idee!
Sie beraten als Wissenschaftlerin die Bundesregierung in Forschungs- und Innovationsfragen. Sind Politiker beratungsresistent?
Schnitzer: Nein, mein Eindruck ist positiv. Ich gehöre ja der Expertenkommission Forschung und Innovation an. Die Politiker in Berlin und die Mitarbeiter in den Ministerien interessieren sich für unsere Argumente. Dass sich Politiker unsere Vorschläge gerne anhören, heißt natürlich nicht, dass sie sie auch eins zu eins umsetzen. Wir müssen als Wissenschaftler letztlich akzeptieren, dass Politiker der Partei- oder Koalitionsräson gehorchen und natürlich auf Wählerstimmen schauen, auch wenn dadurch ausgelöste politische Entscheidungen volkswirtschaftlich manchmal weniger effizient sind.
Mal ein fiktives Beispiel: Die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht engagiert Sie als Beraterin. Was würden Sie zu ihren globalisierungskritischen Thesen sagen, etwa, dass Konzerne Geld ohne Rücksicht auf soziale Konsequenzen dahin schieben, wo es die höchste Rendite bringt?
Schnitzer: Ich würde Frau Wagenknecht sagen, dass man es sich nicht so einfach machen darf, alle wirtschaftlichen Fehlentwicklungen auf die Globalisierung zurückzuführen. Man darf die Globalisierung nicht zum Buhmann erklären, sondern sollte genauer hinschauen. Tatsächlich hat die Globalisierung gerade dazu beigetragen, dass die Ungleichheit in der Welt abgenommen hat.
Wirtschaftliche Ungleichheit in der Welt wurde verringert
Wagenknecht kritisiert aber, dass die große Mehrheit nicht von der Globalisierung profitiere. Es gelte das Faustrecht der Kapitalstarken.
Schnitzer: Es ist jedoch nicht zu übersehen, dass die Entwicklungsländer von der Globalisierung profitiert haben und gewachsen sind. So ist die wirtschaftliche Ungleichheit in der Welt doch in den vergangenen 20 Jahren etwa durch den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas und anderer Staaten deutlich verringert worden. Viele Menschen, die dort in bitterster Armut gelebt haben, können heute gut leben. Insgesamt ist in den meisten Entwicklungsländern der Wohlstand deutlich gestiegen. Aber natürlich gibt es auch Verlierer der Globalisierung.
Und wie geht man mit den Verlierern der Globalisierung um?
Schnitzer: Hier plädiere ich für mehr Ehrlichkeit – auch vonseiten von uns Ökonomen. Nehmen wir ein anderes Thema, den Brexit. Hier haben die englischen EU-Befürworter zwar auf die ökonomischen Nachteile eines Ausstiegs aus der Europäischen Union hingewiesen, sie haben aber die Ängste der EU-Gegner nicht ausreichend ernst genommen. Diese Menschen sehen sich als Verlierer der Brüsseler Politik und der Globalisierung. Bei der von mir eingeforderten ehrlichen Haltung hätten Politiker und Ökonomen in Großbritannien offen aussprechen müssen, dass einige Bürger durch die EU-Politik und die Globalisierung benachteiligt werden. Und man hätte Hilfe in Aussicht stellen müssen. Auch beim Freihandelsabkommen TTIP wurden die Ängste der Gegner nicht ausreichend gewürdigt.
Immer mehr Menschen in Europa fühlen sich unbehaglich, ja benachteiligt. Wie besorgniserregend ist das?
Schnitzer: Das ist sehr besorgniserregend, zumal diese Menschen auch eine Aversion gegen Experten entwickelt haben und schwer für Argumente zugänglich sind. Wir müssen dennoch alles daransetzen, dass diese Menschen nicht von radikalen politischen Kräften erfolgreich umgarnt werden. Wir alle, ob Politiker, Ökonomen oder Journalisten, müssen uns mit den Sorgen dieser Menschen beschäftigen.
Wie groß ist hier der Nachholbedarf?
Schnitzer: Die aktuelle Entwicklung in Europa zeigt, dass das nicht in ausreichendem Maße geschieht. Das sieht man auch an den Wahlergebnissen. Wir müssen als Experten stärker aufklären, auch weil viele der Ängste nicht berechtigt sind.
Ökonomen müssen unters Volk
Also mehr Fakten-Checks wie in der ARD-Sendung „Hart aber fair“?
Schnitzer: Genau. Wir müssen mehr Aufklärung und Volksbildung betreiben, ein Thema, das unseren Verein für Socialpolitik derzeit besonders umtreibt. Wir wollen als Ökonomen die Hörsäle verlassen und in die Schulen gehen. Dort wollen wir mehr Verständnis für wirtschaftliche Themen wecken und Berührungsängste abbauen. Denn es ist klar: Wir brauchen mehr wirtschaftliche Bildung in den Schulen.
Das entspricht ja ganz der Ansicht des bekanntesten deutschen Ökonomen, Hans-Werner Sinn, der sagt, Volkswirte dienten dem Volk, nicht den Politikern.
Schnitzer: Auf alle Fälle müssen wir an der Basis für unsere Anliegen werben und mehr Engagement als heute zeigen. Die Ökonomen müssen unters Volk – auch in Talkshows.
Dort stecken Wirtschaftswissenschaftler aber schon mal Prügel ein. Sie werden als Wachstumsfetischisten geschmäht. Warum muss Wirtschaft eigentlich immer weiter wachsen?
Schnitzer: Wachstum heißt nicht notwendigerweise ein Mehr an Produkten und ein Mehr an Ressourcenverbrauch. Ich sehe den Begriff qualitativ. Wachstum entsteht ja auch durch neue, bessere Produkte, die alte ersetzen. Wachstum steht auch für mehr Dienstleistung, mehr Wellness im Urlaub, eine bessere medizinische Versorgung. Wachstum heißt nicht automatisch, dass wir ein größeres Auto fahren, es kann auch ein autonom sich fortbewegendes Fahrzeug mit Elektroantrieb sein, das ressourcenschonend erzeugt wird. Wachstum steht dafür, dass wir das Leben der Menschen verbessern.
Dabei ist das Image von Ökonomen nicht besonders gut, auch weil nur wenige auf Risiken aufmerksam gemacht haben, die 2008 die Finanzmärkte beben ließen.
Schnitzer: Es gab schon Ökonomen, wie etwa der deutsche Ökonom Martin Hellwig, die schon vor 2008 auf die Risiken von verschachtelten und toxischen Finanzprodukten hingewiesen haben, die ja dann zur Immobilienkrise in den USA geführt haben. Aber insgesamt wurde zu wenig vor dem möglichen Platzen dieser Blase gewarnt. Eines ist allerdings auch klar: Man kann nicht jede Krise vorhersagen.
Finanzmärkte zu sehr sich selbst überlassen
Welche Lehren ziehen Sie aus dem schweren globalen Finanz-Unfall?
Schnitzer: Wir haben die Finanzmärkte zu sehr sich selbst überlassen. Diese zu starke Deregulierung war ein Fehler. Die Politik hat reagiert und strengere Regeln gesetzt. Was allerdings durchaus zu Widerstand im Bankenbereich geführt hat. Die Politik muss hier aber standhaft bleiben. Ein Problem beim Entwickeln neuer Regulierungsregeln ist, dass Ökonomen und Politiker nicht wie Chemiker ins Labor gehen und vorab testen können, ob bestimmte Maßnahmen funktionieren. Wir müssen später überprüfen, ob wir richtig lagen.
Geschieht das denn?
Schnitzer: Hier haben wir noch Luft nach oben. Ich fordere, dass Gesetze nachträglich überprüft werden müssen, ob sie das halten, was man sich von ihnen verspricht. Das wäre eine sinnvolle Qualitätskontrolle, wie sie in Unternehmen üblich ist. Wir Wissenschaftler nennen das Evaluation.
Das ließe sich doch auch mal mit einer Steuerreform machen. Im Nachhinein ist man ja immer schlauer.
Schnitzer: Das stimmt. Wenn Sie mich schon so konkret nach einer Steuerreform fragen: Ich denke, in Deutschland ist die Mittelschicht finanziell zu stark belastet. Sie müsste bei einer Steuerreform entlastet werden. Das würde motivierend wirken und wäre verkraftbar. Beim Spitzensteuersatz sehe ich keine Notwendigkeit einer Änderung. Beim Solidaritätszuschlag plädiere ich für Ehrlichkeit: Diese Abgabe zum Aufbau Ost war zeitlich befristet und sollte jetzt auslaufen. Wer damit neue Aufgaben finanzieren will, sollte diese über den regulären Steuerhaushalt abdecken. Interview: Stefan Stahl
Monika Schnitzer, 54, zählt zu den führenden Wirtschaftswissenschaftlern in Deutschland. Die verheiratete Mutter dreier Töchter ist seit 1996 Professorin an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Die gebürtige Mannheimerin bekam sowohl den Bayerischen Verdienstorden als auch den Bundesverdienstorden am Bande. Der Freistaat Bayern zeichnete sie für „gute Lehre“ aus.