Beim Treffen der EU-Innenminister Ende vergangener Woche hat es – erneut - keine Fortschritte bei der Verteilung von Flüchtenden in Europa gegeben. Sehen Sie sich bestätigt?
Gerald Knaus: Wir sehen seit Jahren, dass die Europäische Union für praktikable Antworten auf viele Fragen, die die irreguläre Migration und Flucht betreffen, schlicht nicht in der Lage ist umsetzbare Lösungen zu finden. Der Grund dafür ist offensichtlich: die Interessen und Werte der 27 Staaten gehen zu weit auseinander.
Gelöst werden kann diese Frage aber nur europäisch. Was also wäre das bessere Format?
Knaus: Vieles kann man national und in Koalition viel besser lösen. Manche EU-Staaten sind mit einer Politik der Gewalt an den Außengrenzen, mit Pushbacks und systematischer Verletzung von Konventionen und EU-Recht, durchaus zufrieden. Und vieles, was EU-Mitgliedstaaten Partnerländern anbieten müssten, um anders als mit der derzeitigen Politik irreguläre Migration human zu kontrollieren und reduzieren, kann die EU gar nicht anbieten.
Nämlich?
Knaus: Wir brauchen Kooperationsangebote an Drittstaaten, Herkunftsländer und Transitländer. Wir brauchen dabei legale Migrationsmöglichkeiten, Arbeitskontingente, Stipendien, am besten verbunden mit Stichtags-Regelungen für Abschiebungen - wenn man sich einig ist. Doch all das können nur Mitgliedsstaaten anbieten, nicht die europäischen Institutionen.
Der Frontex-Skandal, die illegalen Pushbacks an EU-Grenzen, die vielen Toten: Was sind angesichts dessen die Europäische Menschenrechtskonvention, was sind die EU-Grundrechtecharta, was die Genfer Flüchtlingskonvention, was das Europarecht überhaupt noch wert?
Knaus: Es geht heute längst nicht mehr nur um vereinzelte Verletzungen von internationalem und EU-Recht. Es geht darum, dass Staaten systematisch - und im Falle Polens und Ungarns ganz offen - den Kern der Flüchtlingskonvention aussetzen, das Verbot des Zurückstoßens ohne Verfahren. Doch selbst daran gibt es keine klare Kritik von Seiten anderer Regierungen. Ein konkretes Beispiel: Am 8. Dezember soll entschieden werden, dass Kroatien dem Schengen-Raum beitreten kann. Dem ist ein jahrelanger Prozess vorausgegangen, in dem die EU-Institutionen beurteilen sollten, ob Kroatien die Bedingungen dafür erfüllt. Wir wissen aber durch unzählige Berichte kroatischer und internationaler Institutionen, Medien, NGOs und zuletzt des Europäischen Komitees zur Verhinderung von Folter (CPT) des Europarats, dass an der kroatischen Außengrenze systematisch Recht gebrochen wird. Der Beobachtungsprozess durch die EU-Institutionen war hier eine Farce. Und das ist zutiefst beunruhigend.
Auf wie viele Flüchtende muss sich die EU diesen Winter einstellen?
Knaus: Die Zahl der Menschen, die irregulär über das Mittelmeer nach Europa kommen, ist dieses Jahr nicht außergewöhnlich hoch. Nach Griechenland kamen über den See- und Landweg bis jetzt etwa 16.000, von Afrika nach Spanien etwa 30.000, erhöht hat sich dagegen die Zahl jener, die über das Mittelmeer nach Italien kamen: auf über 90.000. Doch insgesamt erklärt das nicht das Gefühl einer Ausnahmesituation, das viele in Deutschland teilen. Der Grund dafür liegt in der Flucht als Folge von Putins Überfall auf die Ukraine. Tatsächlich ist die Vertreibung der Ukrainerinnen, vor allem Frauen und Kinder, seit dem 24. Februar schon jetzt die größte Fluchtkatastrophe in Europa seit den 40er Jahren. Und wir müssen erwarten, dass Putins Terror gegen Zivilisten tatsächlich noch Millionen Weiterer zwingen könnte, die Ukraine zu verlassen. Auch wenn viele bisher zeigten, dass sie ihr Land nicht verlassen wollen.
Die bayerischen Städte und Kommunen seien an ihrer Kapazitätsgrenze, sagte zuletzt der Präsident des Bayerischen Gemeindetages. Ist Deutschland überfordert? Wiederholt sich 2015?
Knaus: Die Ursachen und Art der Flucht sind 2022 vollkommen anders als 2015. Tschechien und Polen haben bislang auch dreimal mehr Ukrainer pro Kopf aufgenommen als Deutschland. Im kleineren Warschau sind mehr als doppelt so viele ukrainische Geflüchtete wie in Berlin. Das geht nur, weil es private Aufnahmen gibt. Auch in Deutschland wird es diesen Winter nicht gehen, ohne dass zusätzliche Flüchtlinge in privaten Haushalten unterkommen. Da muss man ansetzen, wie im „Homes for Ukraine“-Programm der britischen Regierung. Mein Vorschlag an das deutsche Innenministerium ist, denjenigen, die sich bereit erklären, für vier oder sechs Monate Flüchtende aus der Ukraine aufzunehmen, dafür jeden Monat eine steuerfreie Dankes-Pauschale von 500 Euro zu bezahlen. Nicht als Miete, sondern als Anerkennung. Umfragen zeigen, dass 20 Prozent der Haushalte dazu bereit wären. 20 Prozent nur aller Haushalte, die mehr als 100 Quadratmeter Wohnraum haben, wären etwa 800.000. Doch diesen sollte man helfen.
Wie soll das organisiert werden?
Knaus: Wir brauchen eine Plattform, bei der sich die Hilfsbereiten anmelden können. Es wäre für viele geflüchtete Frauen und Kinder unendlich viel einfacher, als wenn ihnen erst Wohngeld ausgezahlt werden muss und sie dann selbstständig für ein paar Monate Mietverträge abschließen müssen. Am besten wäre eine Plattform, an der sich mehr Länder in Europa beteiligen, um ähnliches auch in Frankreich und Italien zu organisieren und dort 500 Euro pro Monat so anzubieten. Das würde Unterschiede bei der Unterstützung, die die Länder gewähren, erheblich reduzieren. Und im Idealfall für eine fairere Verteilung der Flüchtenden in Europa sorgen.
Viele Menschen helfen ja längst, aber ohne mehr private Unterstützung, sagen Sie, kommen wir nicht durch diesen Kriegswinter?
Knaus: Kein Staat in Europa hat hunderttausende Unterbringungen in Reserve. Deshalb ist es so wichtig, dass die Zivilgesellschaft einspringt und dabei vom Staat unterstützt wird. Gelingt das nicht, drohen Notquartiere, die alle lieber vermeiden wollen: in Turnhallen, Messezentren, in Zelten und Containern. Wichtig ist auch, dass Regierungen klar kommunizieren, dass wir es mir einer absoluten Ausnahmesituation zu tun haben. Eine so große Fluchtbewegung in so kurzer Zeit gab es in Europa seit den 40er Jahren nicht. Seit April sind viele Ukrainerinnen und Ukrainer zurückgegangen, aber jetzt ist erneut Winter. Und auch die Fluchtursache – Putins Terror – besteht weiter.
Ist so ein Modell nicht wie gemacht für Betrüger? Es würde breit angelegte Kontrollen brauchen, um sicher zu stellen, dass nur die das Geld bekommen, die tatsächlich Flüchtende aufnehmen.
Knaus: Großbritannien zeigt, dass es sehr gut möglich ist, diese Probleme zu lösen. Die Sorgen, die dort am Anfang geäußert wurden, haben sich nicht bewahrheitet. Klar, es geht nur wenn die Bereitschaft zu helfen besteht. Doch ich glaube, die gibt es immer noch bei sehr vielen.
Wann ist für Sie die Grenze der Aufnahmefähigkeit erreicht?
Knaus: Diese wird letztlich durch das Verhalten in der Gesellschaft bestimmt. Was wir derzeit in Polen oder Tschechien erleben, hätte vor einem Jahr kaum jemand für möglich gehalten – auch nicht, dass Tschechien bei 11 Millionen Einwohnern über 450.000 Anträge auf temporären Schutz entgegengenommen hat. Das ist eine historische Leistung. Dabei kommt es jetzt darauf an den Ukrainern zu helfen, diesen Winter zu überstehen, in der Ukraine oder bei uns. Dann werden wahrscheinlich viele ab April wieder zurückkehren, wie 2022. Es gilt auch: je besser die Ukraine sich schützen kann, desto schneller können Menschen zurück. So sind dann auch Kampfpanzer ein wichtiger Beitrag zur Fluchtursachenbekämpfung.
Wie kommt die EU aus ihrem Glaubwürdigkeitsdilemma heraus, dass autoritäre Staaten ihr so gerne vorhalten: Nämlich sich einerseits den Menschenrechten verpflichtet zu fühlen und diese andererseits an den eigenen Außengrenzen buchstäblich tausendfach mit Füßen zu treten?
Knaus: Für eine Rechtsgemeinschaft wie die EU ist ein Zustand, in dem an ihren Grenzen Rechte und Konventionen regelmäßig und systematisch gebrochen werden, in dem staatliche Organe Parlamente und die Öffentlichkeit anlügen, untragbar. Gleichzeitig aber braucht es politische Strategien, um Regierungen und Mehrheiten davon zu überzeugen, dass es humanitäre Alternativen zu dieser Politik gibt, die nicht auf einen totalen Kontrollverlust hinauslaufen.
Wie wollen Sie die Skeptiker, und davon gibt es in der EU viele, einbinden?
Knaus:Man muss zeigen, wie das durch praktikable Migrationspartnerschaften mit anderen Ländern gehen kann. Und so aus dem Kreislauf der ewig gleichen, sterilen Debatten ausbrechen.
Wie sollen diese Partnerschaften organsiert sein?
Knaus: Nehmen wir das Beispiel Zypern: Wir haben in Zypern die höchste Zahl von Asylanträgen pro Kopf in der Welt. Zugleich hat die Republik Zypern keine Kontrolle darüber, wer über den türkisch besetzten Norden einreist. So wächst die Zahl der Einreisenden, die aus Afrika mit Studentenvisa über den Norden kommen und in der Republik einen Asylantrag stellen. Deren Regierung aber will keine Mauer bauen, um die Insel nicht zu teilen. In dieser Situation sollte man den Hauptherkunftsländern Angebote machen, damit diese - ab einem Stichtag - jeden ihrer Bürger, der keinen Schutz erhält, nach einem schnellen Verfahren zurücknehmen. Und dafür muss man diesen Ländern aber etwas anbieten: Legale Stipendien, legale Mobilität, auch Arbeitskontingente. Das könnte Deutschland mit anderen Ländern am Beispiel Zypern, aber auch für das zentrale Mittelmeer, als Pilotprojekt beweisen. Klar ist, das kleine Zypern braucht dabei Unterstützung.
In Deutschland fehlen pro Jahr rund 400.000 Fachkräfte. Die Bundesregierung hat gerade die Eckpunkte für ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz vorgelegt. Die Industriestaaten konkurrieren auf dem internationalen Arbeitsmarkt um Menschen, die hier arbeiten und bleiben wollen. Die EU, meinen Sie, könnte also zwei Probleme auf einmal lösen?
Knaus: Ja, und zwar im beiderseitigen Interesse. Wo Länder bereit sind zu kooperieren und irreguläre Migration zu reduzieren, wäre es wichtig, legale Mobilität auszubauen. Das ist heute wahrscheinlicher denn je, denn es wäre in beiderseitigem Interesse. Man sollte Tunesien und Bangladesch Angebote machen für Kontingente, damit Leute legal, ohne Ausbeutung und ohne ihr Leben in die Hand von Schleppern geben zu müssen, kommen und arbeiten können. Gleichzeitig muss klar sein: Die, die irregulär gekommen sind und keinen Schutz bekommen, werden sehr schnell zurückgenommen.
Und da glauben Sie, dass sich die Regierung von Ungarn und Polen davon überzeugen lassen?
Knaus: Bei der Aufnahme von Arbeitskräften, bei der Vergabe von Stipendien, sind Polen und Ungarn schon jetzt aktiv, wenn auch ohne viel darüber zu reden, weil auch sie einen Arbeitskräftemangel haben. Was aber die Lage an den Grenzen betrifft, geht es letztlich um Rechtsstaatlichkeit. In der EU müssen europäische Institutionen Europarecht auch an den Grenzen durchsetzen. Wenn die Ampel-Koalition beweisen würde, dass die im Koalitionsvertrag vorgesehenen Migrationspartnerschaften funktionieren, mit Bangladesch, mit Nigeria, mit Tunesien, dann werden sich andere anschließen. Anstatt auf die Einigung aller 27 Staaten zu warten. Das wäre wie Warten auf Godot.
Was heißt das konkret für die Ampel-Regierung, denn den Sonderbevollmächtigten, der dafür ernannt werden sollte, den gibt es noch nicht?
Knaus: Die Person sollte schnell benannt werden. Noch wichtiger aber ist, dass alle Ressorts diese dann auch unterstützen, sonst ist die Person nicht in der Lage, Ländern in Afrika Angebote zu machen, die tatsächlich auch überzeugend sind, und deren Interessen einbeziehen. Bisher war es so, dass europäische Unterhändler versucht haben, ihr Gegenüber unter Druck zu setzen. Dann kam entweder nichts heraus, oder Einigungen über Rückführungen, die in der Praxis nie umgesetzt wurden, weil es kein Interesse gab, sie umzusetzen.
Wenn Europa die Flüchtlingsfrage nicht in den Griff bekommt, scheitert Europa?
Knaus: Wenn Europa eine Rechtsgemeinschaft sein will, darf es nicht systematisch Recht brechen und die Menschenwürde an den EU-Außengrenzen opfern. Das ist extrem gefährlich, so erodieren Grundwerte. Humane Grenzen sind für die EU aus historischen, moralischen, politischen und rechtlichen Gründen kein Luxus, sondern eine absolute Notwendigkeit.
Integration ist eine gesamtgesellschaftliche Leistung. Wie viele Menschen kann ein Land pro Jahr aufnehmen?
Knaus: Das hängt vom Land ab. Kanada hat einen Dreijahresplan, in dem 1,2 Millionen Migranten ins Land gebracht werden. Kanada holt auch seit vielen Jahrzehnten mehr Flüchtlinge organisiert ins Land, und diese wissen dann vom ersten Tag an, dass sie sich integrieren und arbeiten können. Für den Erfolg von Integration ist auch entscheidend, wie man ankommt. Das Schlimmste ist, wenn junge afrikanische Männer, die jahrelang auf gefährlichen Wegen unterwegs waren, am Ende einen Asylantrag stellen, wieder lange warten, bis der dann womöglich am Ende abgelehnt wird, und die in dieser Zeit auch nicht arbeiten können. Da muss man schon eine unglaublich starke Persönlichkeit sein, um daran nicht zu zerbrechen. Das ist auch ein moralisches Argument, irreguläre Migration zu entmutigen und zu reduzieren.
Wann ist für Sie Integration gelungen?
Knaus: Nehmen Sie eine Stadt wie Bradford in England, in der heute 25 Prozent der Bevölkerung aus Südostasien sind, vor allem aus Pakistan. Diese haben auch eigene Privatschulen, ihre Kinder heiraten oft innerhalb der Community, sie haben ihre Traditionen und sind doch überwiegend gleichzeitig stolze Bürger Großbritanniens. Und jetzt kommen Briten mit Wurzeln in Südostasien in hohe und höchste Regierungsämter, sind Mädchen mit Wurzeln aus Bangladesch in Schulen erfolgreicher als andere Gruppen, steigen auf, studieren, arbeiten in vielen Branchen. Das ist gelungene Integration. Der Weg dahin war nicht immer einfach und klar ist, Migration ändert ein Land. Aber so lange sich alle an die Regeln des Rechtsstaats und der Demokratie halten, ein neues Gemeinschaftsgefühl entwickeln, ist das am Ende eine Erfolgsgeschichte. Berlin ist ohne Hugenotten und Tschechen, ohne Polen oder Türken, nicht denkbar. Stuttgart, wo fast die Hälfte der Bevölkerung im Ausland geboren ist, ist eine erfolgreiche, lebenswerte, sichere und sympathische Stadt. In der Schweiz sind ein Viertel der Bevölkerung Ausländer, und sie ist doch einzigartig und unverwechselbar die Schweiz geblieben. Vielfältiger als vor drei Generationen, ja, offener, auch wohlhabender und in fast jeder Hinsicht erfolgreicher. Wo es Probleme gibt, darf man nicht wegsehen, und offensichtlich sind Sprachkenntnisse, Schule und Integration über Arbeit die Schlüssel für Erfolg. Und manchmal braucht es auch Zeit.
Zur Person: Gerald Knaus ist Migrationsforscher, Vorsitzender der Europäischen Stabilitäts-Initiative (ESI) und Autor. Gerade ist sein neuestes Buch "Wir und die Flüchtlinge" (Brandstätter, 2022) erschienen.