Frau Prof. Kemfert, steht in Ihrem Büro eigentlich eine MacGyver-Büste?
Claudia Kemfert: Nein, keine Büste im Büro, aber eine Hommage an MacGyver in meinem neusten Buch. Die Filmfigur der 80er hat nämlich viele Widergänger in der deutschen Wirklichkeit: Engagierte Menschen haben Lösungen für die Energiewende gefunden – und zwar mit klugen Ideen, frischer Kreativität und unter widrigen Umständen größtem Improvisationstalent. Diese Kombination aus Geschick und Kenntnissen, brauchen wir, um die Energiewende endlich intelligent umzusetzen.
Wenn wir alle ein bisschen mehr wie MacGyver sein sollen, wie Sie meinen, gegen wen sollen wir dann mit Schweizer Taschenmesser, Klebeband und Streichhölzern angehen? Wer sind die Murdocs gegen die es ihrer Wahrnehmung nach geht?
Kemfert: Dass wir nur mit eigentlich unzureichenden Mitteln arbeiten müssen, liegt daran, dass Verhinderer aus den fossilen Industrien seit Jahren die Energiewende aufhalten. Das fing vor 15 Jahren damit an, dass die Kosten für erneuerbare Energien künstlich hochgerechnet wurden. Dabei sind die Kosten fossiler Energien deutlich höher, was heute nicht mehr zu leugnen ist. Eine vorausschauende Energiepolitik hätte uns diese Kostenexplosion erspart. Wir müssen endlich radikal umsteuern.
Der Wutwinter ist ausgeblieben und neigt sich dem Ende zu. Wie hat sich die Bundesregierung in der Energiekrise geschlagen?
Kemfert: Oberflächlich scheinbar gut, aber im Kern fatal. Die jetzige Regierung wiederholt leider die Fehler der Vergangenheit. Immer noch wird die echte Energiewende nicht umgesetzt. Stattdessen investieren wir nur in veraltete Technologien, wir reden über Atomenergie, wir bauen Terminals für Flüssiggas. Das ist zum Wahnsinnig-Werden. Wir stecken Millionen in völlig überdimensionierte fossile Infrastruktur, wofür wir schon in wenigen Jahren doppelt zahlen werden. Genauso wie wir vor 15 Jahren in Pipelines investiert haben, die wir nie gebraucht haben und nie brauchen werden. Weiterhin finanzieren wir mit unserer Energiepolitik den russischen Krieg, trotz Zeitenwende. Die Risiken sind bekannt.
Wie viel Zeit bleibt noch?
Kemfert: Wir sind wahnsinnig spät dran und uns läuft die Zeit davon. Schon heute zahlen wir den Preis der verschleppten Energiewende. Die Kosten sind gewaltig. Der „Doppel-Wumms“, eine sprachliche Verharmlosung ohne Gleichen, beträgt satte 200 Milliarden Euro. Und das ist erst der Anfang. Es kommen gigantische Kosten auf uns zu. Wir müssen endlich begreifen, was zu tun ist: Bis 2030 müssen wir den Anteil der erneuerbaren Energien auf mindestens 80 Prozent erhöht und endlich die Verkehrswende umgesetzt haben. Jeder Tag, den wir zögern, verschiebt alles nach hinten. Das ist hochproblematisch. Die fossilen Kriege werden mehr. Und auch die Klimakatastrophe wartet nicht.
Sie beschreiben viel Schatten, fast ein Generalversagen, aber es gibt doch auch Licht: Es gibt zum Beispiel das 9-Euro-Ticket und den Nachfolger, das 49-Euro-Ticket.
Kemfert: Ja, es gibt auch Licht. Es gibt seit Jahrzehnten die McGyvers der Energiewende. Und es gibt endlich auch ein bisschen Einsicht in der Politik. Der grüne Wirtschaftsminister hat in Sachen erneuerbarer Energien manches auf den Weg gebracht. Aber nehmen wir das Tempolimit, das im Verkehr bedauerlicherweise verhindert wird: Das wäre leicht und vor allem ohne Kosten zu ändern, wenn es in der Regierung nicht blockiert würde. Die Mehrheit der Deutschen will Energie sparen, will Emissionen reduzieren, will Klimaschutz. Dafür braucht es gesetzliche Regulierung, dringend. Schon klar, die Regierung kann nicht über Nacht 16 Jahre energiepolitische Fehlentwicklungen wettmachen; aber es gibt ein unsichtbares Tempolimit, das zukunftsorientierte Politik und Verwaltung ausbremst. Das müssen wir endlich abschaffen.
Sie sagen, wir hätten Russland direkt nach dem Einmarsch den Gashahn zudrehen müssen. Wie hätte das funktioniert?
Kemfert: Fakt ist, dass die deutsche Energiepolitik den russischen Krieg mitfinanziert hat. Durch die Abnahme enormer Mengen fossiler Energien zu einem gigantischen Preis, den heute nicht nur wir zahlen. Den größten Preis zahlt die Ukraine, und eben nicht nur mit Geld. Deswegen wäre es unsere Pflicht gewesen, mit Kriegsbeginn aus diesem Geschäft sofort auszusteigen. Dass das möglich gewesen wäre, haben wir in unseren DIW-Studien schon im letzten Februar gezeigt. Und siehe da: Ganz offenkundig ist uns nicht die Energie ausgegangen, selbst als Putin im August den Gashahn seinerseits zugedreht hat. Ein schnelles Embargo hätte also lediglich bedeutet, dass wir bereits im Sommer auf russisches Gas hätten verzichten müssen. Davon wäre unsere Wirtschaft ganz sicher nicht untergegangen. Teuer ist es auch ohne Embargo geworden. Die Gaspreise sind so oder so explodiert. Auch sparen mussten wir sowieso. Die Szenarien waren identisch. Der Unterschied: Für ein Embargo hätte der Kanzler eine Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede halten müssen, dafür wären wir Herr der Lage gewesen. Stattdessen gelten wir als egoistische Zauderer und werden dafür verantwortlich gemacht, dass der Krieg noch nicht beendet ist. Das ist ein Desaster und das muss man so benennen.
Das EU-Embargo gegen Russland ist diese Woche ausgeweitet worden. Nach Rohöl wird nun der Import von Mineralölprodukten sanktioniert, um die russische Kriegskasse weniger zu füllen. Was bewirken die Maßnahmen?
Kemfert: Ohne Zweifel: Russland tun die Sanktionen weh. Und mit der Zeit immer mehr. Aber noch mal: Am meisten weh getan hätte es Russland, wenn wir von Tag eins des Krieges keine fossilen Energien gekauft hätten. Über 50 Prozent der Einnahmen Russlands kommen aus dem Energiegeschäft. Die wirksamste Waffe gegen Russland wäre es, diesen Geldquell zu stoppen – und zwar drastisch. Durch unser Zögern hat Russland leider Zeit gewonnen, um sich Alternativen zu suchen und so die Folgen abzumilden. Deswegen ist die russische Wirtschaft weniger dramatisch eingebrochen als erhofft.
Die Energiewende haben die vorangegangenen Bundesregierungen vergeigt, verstanden. Was aber bitte schön hätte der Bundestagsabgeordnete, der von seinem Bäckermeister Besuch und zu hören bekam, dass er in drei Monaten pleite ist, denn sagen sollen?
Kemfert: Es gibt in Deutschland Bäcker, die sich nicht vom Gas aus Russland abhängig gemacht haben und die sehr gut durch diese Krise gekommen sind, weil sie sich mit einer echten McGyver-Methode durch eine kluge Kombination aus erneuerbaren Energien und effizienter Nutzung selbst versorgen.
Und mit diesem Hinweis, meinen Sie, wäre der Bäcker zufrieden gewesen?
Kemfert: Nicht der Bäcker, dem man jahrelang vorgegaukelt hat, russische Gas sei eine günstige und sichere Energie. Die deutsche Energiepolitik basierte auf Illusionen, auf Lügen. Man muss das so deutlich benennen. Hätten wir dem Bäcker offen gesagt: Entweder machen wir uns abhängig von russischem Gas und vertrauen darauf, dass diese Marktmacht nie ausgenutzt wird. Oder wir investieren in die Energiewende, sparen langfristig Geld und sichern unsere Unabhängigkeit. Dann hätte heute kein Bäcker ein Problem. Erst recht nicht, wenn wir den Umstieg finanziell unterstützt hätten – mit einem „grünen Wumms“ zum Beispiel. Das wäre locker möglich gewesen und unterm Strich deutlich günstiger. Dann würde sich die Mehrheit der Bäcker heute selbst versorgen. Und wir hätten die Probleme nicht, die wir haben.
Das hätte aber doch in der akuten Notsituation nicht geholfen…
Kemfert: Stimmt. Wenn der Zug in den Abgrund stürzt, kann man nur noch akute Erste Hilfe leisten. Aber die Frage ist doch, warum der Zug mit Hochgeschwindigkeit auf den Abgrund zugefahren ist. Trotz Warnungen. Wider besseres Wissen. Mir fehlt eine ehrliche Aufarbeitung dieses Energiedramas. Stattdessen lassen sich Menschen und Medien mit fadenscheinigen Ausreden für unzureichendes Handeln abspeisen. Der Krieg ist eine Zäsur. Das sagen alle, aber in der Praxis machen wir genauso weiter wie vorher. Wir müssen uns ehrlich machen. Das wäre ein Anfang, den dann auch der Bäcker mitgehen würde. Er braucht dabei nur Unterstützung. Stattdessen wird – siehe den Scholz-Auftritt bei Anne Will letztes Jahr – der fossilen Industrie mehr geglaubt als der unabhängigen Wissenschaft. Das macht mich fassungslos.
Wer genau hat welchen Fehler gemacht?
Kemfert: Die Verantwortlichen sitzen in Politik und Wirtschaft – und es sind mehr als eine Handvoll Personen. Im Buch versuche ich anhand einzelner konkreter Beispiele das dahinterliegende System zu durchleuchten. Deswegen greife ich nur einige Namen exemplarisch heraus. Die Strompreisbremse des damaligen Umweltministers Peter Altmaier zum Beispiel war in Wahrheit eine Ausbaubremse für erneuerbare Energien. Die Konsequenz: Wir haben wertvolle Industriearbeitsplätze verloren. Frank-Walter Steinmeier hat 2014 eine völlig verfehlte Außenpolitik betrieben, indem er glaubte, er könne Russlands Ukraine-Hass durch deutsche Gasverträge besänftigen. Stattdessen hat er dadurch die russische Kriegsmaschinerie finanziert und die deutsche Energiepolitik in ein finanzielles Desaster geführt. Von dem Verrat an allen Klima-Ambitionen mal ganz abgesehen. Angela Merkel hat mit der Unterstützung vor allem der Gaspipelines das Desaster mitzuverantworten. Manuela Schwesig hat in Mecklenburg-Vorpommern durch diese Fake-Klima-Stiftung ebenso dazu beigetragen. Der jetzige Untersuchungsausschuss zu dem Thema verdient sehr viel mehr Aufmerksamkeit. Er dreht sich ja nicht bloß um ein Provinzdebakel, sondern um die Spitze eines gewaltigen Desasters der deutschen Außen- und Energiepolitik. Schwesig und ihre Vorgänger haben bei ihren trickreichen Geschäften mit Putins Gasprom doch nicht ohne Wissen und Duldung der Bundesregierung gehandelt.
Sie sagen, vor 15 Jahren hätten die LNG-Terminals noch ihre Berechtigung gehabt und das Argument Gas als Brückentechnologie zu nutzen. Aber heute ist es eigentlich zu spät dafür. Welchen Weg bräuchten wir denn, um schnell ohne dieses Gas auszukommen? Was macht Sie optimistisch, dass wir dies schaffen?
Kemfert: Wir brauchen einen Energiewende-Booster, einen Wumms für die Energiewende: Windenergie ausbauen, Solarenergie auf möglichst viele Dächer, Geothermie, nachhaltige Biomasse, kleine Wasserkraftanlagen nachhaltig ausweiten, mehr Pumpspeicherkraftwerke wieder ans Netz nehmen, Batteriespeicher, kleine Heimspeicher so vernetzen, dass sie dann auch dezentral funktionieren und den grünen Wasserstoff fördern. Die Liste ist lang, sie geht noch länger, ich zähle sie seit 15 Jahren auf. Wir brauchen keine Brücken mehr. Wir haben das rettende Ufer der erneuerbaren Energien längst erreicht. Diese angeblichen Brücken führen ins Nichts. Das Brückentechnologie-Theater lenkt nur ab und soll fossile und atomare Technologie möglichst lang aufrechterhalten.
Gehen wir doch mal in den Verkehrssektor rein. Im Koalitionsausschuss konnten sich FDP und Grüne mal wieder nicht einigen, Stichwort Planungsbeschleunigungsgesetz. Könnten Sie mit ein paar mehr Autobahnen leben, wenn dafür endlich das Bahnnetz schneller ausgebaut würde?
Kemfert: Es absurd, das eine gegen das andere auszuspielen. Wer lungenkrank ist, sollte das Rauchen aufhören und nicht statt zur Zigarette zur Pfeife greifen. Immer neue Straßen verzögern bloß die Verkehrswende. Mehr Straßen bedeuten mehr Verkehr und mehr Emissionen. Und das geht in die völlig falsche Richtung. In die richtige Richtung geht Schienenverkehr und deswegen sollte man sich darauf auch fokussieren.
Wie enttäuscht sind Sie denn von den Grünen, die viele ihrer Positionen politisch vertreten?
Kemfert: Ich denke nicht parteibezogen, sondern sehe eine gesamte Regierung in der Verantwortung. Und da bin ich einfach schockiert und fassungslos. Wir betreiben nach einem Jahr Krieg immer noch fossile Aufrüstung und das muss aufhören. Jedes neue LNG-Terminal ist eine weitere Niederlage für den Frieden.
Vor einer Deindustrialisierung, vor der so viel gewarnt wird, haben Sie keine Angst?
Kemfert: Nein. ‘Deindustrialisierung‘ ist ein Kampfbegriff fossiler Ideologie. Energie- und Verkehrswende sind eine riesige Chance. Wir haben im Moment einen Wettlauf um die besten Industriestandorte dafür. Die Amerikaner – Stichwort Inflation Reduction Act – drehen völlig auf, China lockt schon lange die entsprechenden Industrien und mit hohen Subventionen. Den riesigen Wettbewerbsvorteil von einst haben wir leider durch energiepolitisch Fehlentscheidung verspielt. Die fossilen Industrien werden sterben, aber den erneuerbaren Industrien gehört die Zukunft.
Riesig mag die Chance sein. In Bayern hat es 2022 aber gerade mal zu 14 Windkraftanlagen gereicht. Jetzt hat die Staatsregierung zwar bei der 10-H-Regel nachgebessert, aber ihr rennt doch einfach die Zeit davon.
Kemfert: Das stimmt leider. Wie gesagt: Bayern hat sich im Hinblick auf Energiewende das strengste ‚Tempolimit‘ Deutschlands auferlegt. Für dies lange Festhalten an veralteten Technologien zahlt Bayern schon jetzt einen hohen Preis. Langfristig wird das den Freistaat teuer zu stehen kommen. Zu wenig Erneuerbare ist heute schon ein Standortnachteil. Bayern ist, was vorausschauende Energiepolitik angeht, leider zum Problembären geworden. Ich hoffe, dass Bayern nicht ganz den Anschluss verliert und das andere Bundesländer den Klassenschwächsten mitziehen können.
Die Angst ist im Süden groß, dass es zwei Strompreiszonen in Deutschland geben könnte. Eine billige im Norden und eine teure im Süden…
Kemfert: Strompreiszonen gibt es derzeit nicht. Das ist Angst vor einem hypothetischen Detail, welches die Strompreise insgesamt wohl kaum in nennenswertem Umfang verändern würde. Reale Angst sollte Bayern haben, dass es wegen der verschleppten Energiewende unattraktiv für wichtige Industrie-Unternehmen wird. Das Festhalten an veralteten Energien ist schon heute ein Standortnachteil. Wer Bayerns Wirtschaft sichern will, muss den Ausbau der Windenergie beschleunigen.
Zur Person: Claudia Kemfert ist eine der bekanntesten Expertinnen für Energie- und Klimaökonomie. Seit 2004 leitet sie die Abteilung Energie, Verkehr und Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin). An diesem Mittwoch erscheint das neue Buch der Professorin für Energieökonomie und Nachhaltigkeit: "Schockwellen – Letzt Chance für sichere Energien und Frieden" (Campus Verlag).