Viel zu lange haben EZB-Präsidentin Christine Lagarde und ihr Team Ausmaß und Gefahr der Inflation kleingeredet. Im September vergangenen Jahres, als die Teuerung in Deutschland bereits die Warnschwelle von 4,0 Prozent überschritten hatte, wurde das unübersehbare Ärgernis noch als vorübergehendes Phänomen verharmlost und der Preisanstieg weitschweifig mit Basis-Effekten, also reinen Sonderfaktoren, erklärt.
So bezeichnete Lagarde im November eine Zinserhöhung für 2022 als sehr unwahrscheinlich. Dabei war damals schon überdeutlich, dass sich die Inflation Stück für Stück im Wirtschaftsleben festfrisst und immer gieriger wird. Bereits vor Putins Krieg zeichnete sich ab, wie lange Firmen noch massive Probleme haben werden, Vorprodukte, also etwa Halbleiter zu beschaffen.
Wenn Waren aber so knapp sind, steigen ihre Preise. Doch Inflationswarnungen wie von dem Fachmann Hans-Werner Sinn wurden verdrängt. Lagardes Vertraute, ihr Direktoriumsmitglied Isabel Schnabel, schrieb im Herbst 2021 ihre kolossale Fehleinschätzung zum Nachlesen auf: „Es gibt nicht den geringsten Hinweis darauf, dass die aktuelle Geldpolitik zu permanent höherer Inflation oder gar zu einer Hyperinflation führen wird.“ Ihren allzu zuversichtlichen Beitrag überschrieb die Expertin auch noch provokativ mit „Das Gespenst der Inflation“ – und das, nachdem die Teuerung in Deutschland im August 2021 auf 3,9 Prozent geklettert war.
Die absurden Strafgebühren für Banken, die Geld parken, müssen weg
Doch es ist die oberste Aufgabe der Europäischen Zentralbank, für Preisstabilität zu sorgen. So strebt die Notenbank eine Inflation von 2,0 Prozent an. Inzwischen ist die Teuerung im Euro-Raum mit 8,1 Prozent aber rund vier Mal so hoch, was besorgniserregend wirkt und die Einschätzungen von Lagarde und Schnabel als reines Wunschdenken offenlegt. Denn aus Sicht der beiden EZB-Verantwortlichen durfte die Wirtschaftswelt nicht so sein, wie sie es war. Sonst hätte Lagarde die Zinsen schon im Januar dieses Jahres von dem unerträglich niedrigen Satz von null Prozent um zumindest 0,25 Prozentpunkte erhöhen müssen. Und sonst wäre sie nicht umhingekommen, im gleichen Atemzug die absurden Strafgebühren für Banken, die Geld bei der EZB parken, aufzuheben.
Doch Lagarde sträubte sich in fahrlässiger Weise gegen einen klar gebotenen Schritt. Das tat die EZB-Chefin, weil sie mehr noch als auf die Preisstabilität auf das Wohlergehen von Schuldenstaaten wie Italien achtet. Dank der Nullzinspolitik können sich solche vorsätzlichen Haushaltssünder günstig finanzieren und ihren Schlendrian beibehalten. Lagarde hat aus Angst vor einer neuen Eurokrise einen anderen, nicht minder gefährlichen Missstand heraufbeschworen, nämlich eine Euro-Vertrauenskrise: Was ist Geld schließlich wert, wenn es durch eine Mega-Inflation ausgelaugt wird? Lagarde hat weiteres Vertrauen in die europäische Währung verspielt. Die von ihrem Vorgänger Mario Draghi eingeleitete Nullzinspolitik leistete hier schon reichlich negative Vorarbeit.
Es ist zu befürchten, dass Lagarde sich für kleinstmögliche Schritte entscheidet
Wenn der EZB-Rat an diesem Donnerstag zusammenkommt, um über die weitere Zinspolitik zu entscheiden, ist rasches und spürbares Handeln überfällig: Am klügsten wäre es, wie zuletzt in den USA die Zinsen mutig um 0,5 Prozentpunkte nach oben zu schrauben. Dies wäre ein klares Signal, dass die Euro-Zentralbank endlich gewillt wirkt, der ausufernden Inflation entgegenzutreten. Doch es ist zu befürchten, dass sich Lagarde für eine Politik kleinstmöglicher Schritte entscheidet, es also bei 0,25 Prozentpunkten im Juli belässt, um im Herbst noch einmal in gleicher Höhe draufzusatteln. Damit wird sie den Drachen „Inflation“ nur kitzeln, aber nicht in die Schranken weisen.