Wenn an diesem Donnerstag der Rat der Europäischen Zentralbank zusammenkommt, erwarten Beobachter eher nicht, dass der Leitzins bereits so früh im Jahr gesenkt wird. Die Inflationsrate in der Eurozone ist von den angestrebten zwei Prozent noch entfernt. Ende vergangenen Jahres hatte sich die Teuerung sogar beschleunigt. Die Verbraucherpreise lagen im Dezember 2,9 Prozent höher als ein Jahr zuvor, wie das Statistikamt Eurostat in Luxemburg jüngst mitteilte. Noch im November hatte die Inflationsrate mit 2,4 Prozent den tiefsten Stand seit Sommer 2021 markiert. In Deutschland, der größten Volkswirtschaft in der EU, haben sich die Verbraucherpreise 2023 laut Statistischem Bundesamt im Schnitt indes immer noch um 5,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr erhöht. Was bedeutet das nun perspektivisch? Zum Beispiel für die gebeutelte Bauwirtschaft, Mittelstand, Industrie und – nicht zuletzt – den Staatshaushalt?
Wann dreht die EZB die Zinsschraube zurück?
EZB-Präsidentin Christine Lagarde hatte beim Weltwirtschaftsforum in Davos der Nachrichtenagentur Bloomberg zuletzt gesagt, dass eine Zinssenkung im Sommer durchaus wahrscheinlich sei. Die Französin hatte die Erwartungen aber gedämpft – mit Verweis auf die Konjunkturabhängigkeit der EZB-Geldpolitik. Stefan Schneider, Chefvolkswirt für Deutschland bei Deutsche Bank (DB) Research, schätzt die Lage im Gespräch mit unserer Redaktion so ein: "Wir erwarten, dass sich die Konjunktur in den nächsten Monaten schwächer als von der EZB unterstellt entwickelt und sich damit auch der Rückgang der Inflationsrate weiter fortsetzt. Daher sehen wir – trotz der eher retardierenden Kommentare der EZB – die erste Zinssenkung im April." Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), fordert auf Anfrage unserer Redaktion, dass die EZB "dringend" eine erste Zinssenkung in Aussicht stellen soll. Die hohen Zinsen seien "die größte Bremse" für die deutsche und europäische Wirtschaft in diesem Jahr.
Sollte die EZB-Präsidentin am Donnerstag bereits in Aussicht stellen, wann die erste Senkung erfolgen könnte, was hätte das für Auswirkungen?
DB-Chefvolkswirt Schneider sagt: "Mit einer klaren Terminierung von Zinssenkungen würde sich Frau Lagarde in Widerspruch zu ihrer eigenen Aussage bringen, dass Zinsschritte in erster Linie datenabhängig sind. Überdies haben EZB-Vertreter zuletzt darauf hingewiesen, dass die durch übertriebenen Zinsoptimismus verursachten Kursgewinne an Anleihe- und Aktienmärkten eher kontraproduktiv wirken, da sie die von der Geldpolitik beabsichtigte bremsende Wirkung auf die Inflation abschwächen." Er erwartet daher, dass sich Lagarde hierzu eher bedeckt halten wird.
Was hätten Verbraucher und Sparer zu erwarten, sollte angekündigt werden, die Zinsschraube zurückzudrehen?
DIW-Präsident Fratzscher sagt: "Geringere Zinsen würden sich kaum auf die Sparzinsen auswirken, denn viele Banken haben die höheren Zinsen ja noch nicht an ihre Kunden weitergegeben." Die Geldhäuser müssten dies allerdings "dringend nachholen", denn sie profitierten von höheren Zinsen. Sascha Straub, Fachmann für Finanzfragen und Versicherungen bei der Verbraucherzentrale Bayern, sieht dennoch auch eine Chance, denn: "Sollte es dieses Jahr noch eine Zinssenkung geben, kann man heuer noch höhere Festgeldzinsen bekommen. Wenn man mittelfristige und langfristige Anlagen wählt, kann es sinnvoll sein, jetzt noch die Gelegenheit zu nutzen." Aber, rät der Fachmann, man sollte auf verschiedene Anlageformen setzen, um das Risiko zu streuen.
Und was würde die Ankündigung einer Zinssenkung für die Entwicklung von Bauzins und Bauwirtschaft bedeuten?
Der Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer Schwaben, Marc Lucassen, hofft auf einen "geldpolitischen Impuls" aus Frankfurt, der sowohl "strukturell als auch konjunkturell" hilfreich wäre. Auch für die Bauwirtschaft. Denn: "Die konjunkturelle Stimmung im Baugewerbe ist im Vergleich aller Branchen aktuell die schlechteste. Die Bewertung der aktuellen Lage hat sich weiter eingetrübt, die Erwartungen verharren auf einem sehr niedrigen Niveau." Das Baugewerbe benötige daher dringend bessere Rahmenbedingungen. Chefvolkswirt Schneider erwartet, dass die Hypothekenzinsen gegebenenfalls wieder etwas sinken dürften. "Leichte positive Impulse dürften aber wohl erst gegen Jahresende bei der Bauwirtschaft ankommen."
Was würde es für die Industrie und für den deutschen Mittelstand bedeuten? Gibt es dort derzeit einen Investitionsstau, der durch die Aussicht auf billigeres Geld allmählich aufgelöst werden könnte?
DIW-Präsident Fratzscher ist überzeugt, dass der Ausblick auf geringere Zinsen sofort die Finanzierungsbedingungen verbessern dürfte. Die Bauwirtschaft und viele Unternehmen würden profitieren, "da sich dadurch Investitionen wieder mehr lohnen." Chefvolkswirt Schneider sieht die Gründe für die aktuelle Investitionsschwäche in der Industrie in erster Linie in der schwachen Nachfrage und der Verunsicherung angesichts der strukturellen Herausforderungen, die beide die Gewinnaussichten trüben. Unternehmen investierten aber bei optimistischen Gewinnerwartungen. Er sagt: "In der Vergangenheit haben in einem derartigen Umfeld selbst deutlich steigende Zinsen Investitionen kaum gebremst. Zwar dürften leicht sinkende Zinsen das ein oder andere Projekt über Break Even bringen, aber insgesamt sollte die Wirkung auf die Investitionen überschaubar sein."
Was heißt das für Fiskus und die Staatsschulden?
Zum Jahresende 2023 hatte der Bund (für den Bundeshaushalt und die Sondervermögen) laut Bundesfinanzministerium 1.639,7 Milliarden Euro an Krediten aufgenommen. Diese Angabe berücksichtigt nicht die Schulden von Ländern und Kommunen. DIW-Präsident Fratzscher sagt: "Dem deutschen Start dürften geringere Zinsen auch etwas helfen, jedoch nur geringfügig. Denn der deutsche Staat ist der große Gewinner der hohen Inflation und er zahlt noch immer vergleichsweise sehr niedrige Zinsen auf die Schulden." (mit dpa)