Berlin Unter den Industrienationen liegt Deutschland in puncto Wirtschaftswachstum auf den hinteren Rängen. Den Unternehmen stecken noch immer die beiden Schocks Coronapandemie und Russlands Überfall der Ukraine in den Knochen. Der herbeigesehnte Aufschwung will sich nicht einstellen. Eigentlich sollte die Wirtschaft im zweiten Halbjahr anrollen, aber zuletzt überraschten die Konjunkturbarometer negativ. Wo steht die Bundesrepublik ökonomisch? Ein Überblick.
Wie ist die aktuelle Lage?
Bevor sich ganz Deutschland in die Ferien verabschiedet, setzte es konjunkturell mehrere kalte Duschen. Im zweiten Quartal des Jahres ist die Wirtschaftsleistung überraschend geschrumpft. Im Vergleich zu den ersten drei Monaten des Jahres ging sie um 0,1 Prozent zurück. Vor allem die schwachen Investitionen am Bau und in Maschinen belasteten. Spiegelbildlich dazu hat sich die Stimmung auf den Chefetagen eingetrübt. Im Handel, in der Baubranche und in der Industrie überwiegt Skepsis, wie das ifo-Institut in seiner aktuellen Unternehmensbefragung (ifo-Index) ermittelt hat.
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) halten es anhand ihrer Zahlen für wahrscheinlich, dass auch im dritten Quartal ein Minus zu verzeichnen sein wird. „Es wird immer wahrscheinlicher, dass unsere Prognose einer Fast-Stagnation 2024 und eines bestenfalls moderaten Wachstum 2025 eintritt“, sagte IMK-Direktor Sebastian Dullien. Für das kommende Jahr rechnet die Bundesregierung immerhin mit einem Plus von 1 Prozent. Der Wert sollte außerdem durch die jüngst verkündete Wachstumsinitiative gesteigert werden. Die Annahmen könnten sich nun als zu optimistisch erweisen.
Was bewegt die Unternehmen?
Über die aktuellen Belastungen hinaus schwindet in den Betrieben der Glaube an den Heimatmarkt. In einer Umfrage des Verbandes der Familienunternehmen haben nur noch 23 Prozent der 800 befragten Firmen angegeben, im kommenden Quartal Erweiterungsinvestitionen vorzunehmen. Im Jahr 2018 lag dieser Wert noch bei 49 Prozent.
„Deutschland verliert immer weiter an Wettbewerbsfähigkeit, der Standort wird immer unattraktiver. Die deutsche Wirtschaft steckt in der Krise und die Politik im Sommerurlaub“, sagte Verbandspräsidentin Marie-Christine Ostermann unserer Redaktion. Ihr zufolge werden die Investitionen hierzulande erst wieder anziehen, wenn die Bundesregierung die von ihr angekündigte Wachstumsinitiative wie versprochen umsetzt. „Die Wirtschaft braucht eine deutliche politische Wende, die die politisch verursachten Produktionskosten verbessert“, meinte Ostermann.
Die Ergebnisse der Umfrage passen zu einer Studie der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) vom Donnerstag. Vier von zehn Industrieunternehmen erwägen demnach wegen der hohen Energiepreise, ihre Produktion in Deutschland zu drosseln oder ins Ausland zu verlagern. „Der Politik ist es bisher nicht gelungen, den Unternehmen eine Perspektive für eine zuverlässige und bezahlbare Energieversorgung aufzuzeigen“, beklagte der stellvertretende DIHK-Geschäftsführer Achim Dercks. Die Unternehmen glaubten nicht daran, dass die grüne Wasserstoffwirtschaft bis zum Jahr 2030 Wirklichkeit werden könne.
Wie reagiert die Börse?
Während es in der Realwirtschaft nach unten ging, konnten die Kurse an der Börse in Frankfurt zulegen. Der Deutsche Aktienindex (DAX) kletterte im Juli um 1,7 Prozent. Von den 40 darin gelisteten Wertpapieren stiegen 23 im Wert. Spitzenreiter waren laut der Analyse der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) die Anteilsscheine von Sartorius, Fresenius und Siemens, die alle zweistellig hinzugewannen.
Dass die Anleger weiter Zutrauen in die deutschen Konzerne haben, liegt vor allem daran, dass sie weltweit Geschäfte machen und nicht auf den lahmenden Heimatmarkt begrenzt sind. Die Volkswirte der Bayerischen Landesbank erwarten allerdings, dass der Dax den steilen Anstieg aus den ersten sechs Monaten nicht fortsetzen kann und das Jahr mit etwa 18.500 Punkten beschließen wird. Derzeit steht er bei rund 18.300 Zählern. Die Börsenexperten der LBBW sagen immerhin 19.000 als Jahresendstand voraus.
Hauptgrund für die Seitwärtsfahrt ist, dass die US-Notenbank Fed und ihr europäisches Pendant EZB die Zinsen langsamer senken, als noch zu Jahresbeginn angenommen. Niedrigere Zinsen machen Kredite und damit Investitionen günstiger, die Unternehmen und Privatleute in ihre Zukunft stecken. Bei der Baubranche ist der Zusammenhang schlagend. Die Kombination aus vergleichsweise hohen Zinsen und teurem Material hat den Wohnungsbau einbrechen lassen.
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