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Interview: Top-Ökonom Marcel Fratzscher warnt vor Inflations-Panik

Interview

Top-Ökonom Marcel Fratzscher warnt vor Inflations-Panik

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    DIW-Präsident Marcel Fratzscher hat klare Vorstellungen, was die neue Bundesregierung voranbringen soll.
    DIW-Präsident Marcel Fratzscher hat klare Vorstellungen, was die neue Bundesregierung voranbringen soll. Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa

    Herr Fratzscher, wie schmerzhaft war denn Ihr letzter Tankstellenaufenthalt? Ein Liter Benzin kostet zum Teil schon gut 1,70 Euro.

    Marcel Fratzscher: Ich habe kein Auto. Ich kann leicht reden. Ich wohne in Berlin und habe das Glück, dass ich kein Auto brauche.

    Die Inflation steigt und steigt. Nun sind es schon 4,5 Prozent. Wie ernst ist die Lage? Wie lange bleibt sie ernst?

    Fratzscher: Keine noch so gute Prognose kann verlässlich vorhersagen, wie lange die Inflation hoch bleibt. Denn vor allem durch die Pandemie leben wir in extrem unsicheren Zeiten. Das ist die Hauptursache für den Anstieg auf 4,5 Prozent. Ich gehe davon aus, dass sich die Teuerung zum Jahresende bis auf 5,0 Prozent bewegen könnte.

    Die Inflationslage wird immer ernster.

    Fratzscher: 4,5 Prozent Inflation klingt dramatischer, als die Lage wirklich ist. Denn im vergangenen Jahr wurde die Mehrwertsteuer ja gesenkt, um Anfang dieses Jahres wieder von 16 auf 19 Prozent erhöht zu werden. Wir rechnen für das gesamte Jahr 2021 mit einer Inflationsrate von 3,0 Prozent, was nicht dramatisch ist. Nächstes Jahr gehen wir für Deutschland von einer Teuerung von 2,5 Prozent aus. Wir sollten also einen kühlen Kopf bewahren und nicht in Inflationspanik verfallen.

    Das funktioniert besser mit einem hoffnungsvollen Ausblick. Haben Sie hier etwas Beruhigendes im Angebot?

    Fratzscher: Die Chancen stehen gut, dass sich die Inflation in Deutschland wieder auf etwa 2,0 Prozent einpendelt. Dabei müssen wir auch ehrlich sein und berücksichtigen, dass die Preise im vergangenen Corona-Jahr stark gefallen sind. Wir erleben also einen Aufholeffekt. Das stellt zum Teil eine Normalisierung dar. Doch Energie- und Nahrungsmittelpreise schießen auch über das Niveau der vergangenen Jahre hinaus. Das ist auch das Resultat von Lieferengpässen und der Tatsache, dass Länder wie Russland mit uns spielen. Doch auch der Klimawandel befeuert die Inflation.

    Inwiefern?

    Fratzscher: Insofern, als dass sich etwa die Preise für Holz zum Teil verdoppelt haben. Das geht auf Trockenheit, Schädlingsbefall, große Hitze und Waldbrände zurück, was eine Folge des Klimawandels ist. Das Angebot an Holz wurde knapp, was die Preise deutlich steigen ließ. Viele Faktoren tragen also zur steigenden Inflation bei, die meisten sind jedoch abgesehen vom Klimawandel nur vorübergehender Natur. Wenn wir die Pandemie überwunden haben und die Unternehmen wieder ausreichend etwa Halbleiterprodukte bekommen, könnte die Inflation wieder zurückgehen.

    Sie sagen „könnte“. Könnte die Teuerung auch ein Dauergast werden?

    Fratzscher: Wir wissen nicht, wann die Unternehmen ausreichend Vorprodukte bekommen. Ich spreche also eine Hoffnung aus. Und wir müssen berücksichtigen, dass sich sowohl Klimaschutz wie Klimawandel auf die Inflation auswirken. Beide Effekte lassen also die Teuerung steigen. Klimaschutz erhöht natürlich den Preis fossiler Energieträger wie Kohle, was gewünscht ist. Wenn wir Klimaschutz als Bürgerinnen und Bürger ernst nehmen, müssen wir akzeptieren, dass die Preise für diese Energieformen steigen. Hier müssen wir uns ehrlicher machen.

    Sie glauben, dass ein gewisses Maß an grüner Inflation, also Preissteigerungen im Zuge des Klimaschutzes, notwendig ist. Was ist ein gewisses Maß? Was ist der Preis für den Klimaschutz?

    Fratzscher: Wenn man Subventionen für fossile Energieträger abbaut und gleichzeitig über einen höheren CO2-Preis umsteuert, erhöht das nach Studien die Inflation um etwa 0,4 bis 0,5 Prozentpunkte pro Jahr. Wir müssen also keine Angst haben, dass wir in Deutschland wie in den 70er Jahren wieder länger mit einer hohen Inflation leben müssen.

    Wirklich?

    Fratzscher: Wir sollten uns keine Sorgen machen, dass wir jedes Jahr mit vier bis fünf Prozent Inflation leben müssen. Durch mehr Klimaschutz steigen die Preise nur moderat an. Das ist verkraftbar. Es wird ja nicht alles teurer. Doch die Energiepreise könnten eher um vier bis fünf Prozent steigen, während sich die Inflation wieder dem von der Europäischen Zentralbank anvisierten Wert von rund zwei Prozent nähert. Im Gegenzug werden ja etwa Elektronikprodukte und digitale Dienstleistungen weiter günstiger.

    Für Menschen mit höheren Einkommen ist Inflation leichter verkraftbar als für Menschen, die es nicht so dicke haben. Vertieft der Klimaschutz den sozialen Graben in Deutschland?

    Fratzscher: Ja, meine Sorge ist, dass die Preissteigerung Menschen mit einem niedrigen Einkommen besonders hart trifft, weil sie einen höheren Anteil ihres Einkommens für Energie und Nahrungsmittel als Menschen mit einem hohen Einkommen ausgeben. Gerade Pendlerinnen und Pendler, die auf dem Land wohnen, weil sie sich die immer höheren Mieten in den Städten nicht leisten können und auf ein Auto angewiesen sind, leiden besonders unter steigenden Preisen.

    Was muss passieren?

    Fratzscher: Der Staat muss diesen Menschen finanziell helfen, was ja auch geplant ist. Das sollte zielgenauer passieren. Menschen mit niedrigerem Einkommen müssen stärker entlastet werden als solche mit hohen, die wie ich in der Stadt wohnen und kein Auto brauchen. Und der Klimawandel braucht Zeit.

    Wie viel Zeit?

    Fratzscher: Sie können einer Pendlerin oder einem Pendler, der auf dem Land wohnt und sich vor vier Jahren einen gebrauchten Diesel gekauft hat, nicht sagen: Nun kaufe dir mal gleich ein Elektroauto.

    Viele akzeptieren Preissteigerungen nur, wenn sie bei zwei Prozent verharren und nicht noch höher ausfallen.

    Fratzscher: Hier kann ich nur auf die Erfolgsgeschichte der Europäischen Zentralbank verweisen. In den letzten 23 Jahren lag die Inflation im Euroraum im Schnitt bei knapp 1,5 Prozent, also unter dem 2,0-Prozent-Niveau der Preisstabilität. Wir Deutsche können der EZB vertrauen. Die Europäische Zentralbank hat in den letzten 23 Jahren einen guten Job gemacht, die Preise stabil und den Euro stark gehalten.

    EZB-Präsidentin Christine Lagarde macht den Deutschen aber kaum Hoffnung auf steigende Zinsen. Doch muss die EZB nicht die Zinsen erhöhen, wenn die Inflation ein Dauergast wird?

    Fratzscher: Das muss sie dann, das wird sie auch tun und das kann sie auch. Es wird ja häufig behauptet, die EZB sei gefangen und nicht mehr in der Lage, die Zinsen wieder zu erhöhen. Das stimmt nicht. Wir sollten der EZB vertrauen. Früher oder später werden die Zinsen wieder steigen. Und wir müssen uns ein bisschen locker machen, was das Thema der hohen Verschuldung von Ländern wie Italien betrifft. Denn Italien macht einen guten Job.

    Müssen wir uns auch lockerer machen, was unsere eigenen Schulden betrifft?

    Fratzscher: Ohne Steuererhöhungen wird in Deutschland kein Weg an zusätzlichen Schulden vorbeiführen. Da sollte eine neue Bundesregierung den Menschen reinen Wein einschenken. Alle Rechnungen zeigen uns, dass der deutsche Staat in den nächsten zehn Jahren jedes Jahr 50 Milliarden Euro für mehr Klimaschutz und den Ausbau der Digitalisierung braucht. Das geht nur über höhere Schulden, wenn man die Steuern nicht erhöhen will. Wir sollten Schulden nicht verteufeln. Schulden sind per se nicht gut oder schlecht. Es kommt darauf an, was der Staat mit dem Geld macht.

    Gibt es wirklich gute Schulden?

    Fratzscher: Wenn der Staat Schulden für Klimaschutz, Digitalisierung und Bildung aufnimmt, ist das klug ausgegebenes Geld. Das sind gute Schulden.

    Sie werden für den Posten des Bundesbank-Präsidenten ins Gespräch gebracht. Freut Sie das?

    Fratzscher: Natürlich freut mich das. Ob das wirklich eine Option ist, weiß ich nicht. Ich habe eine schöne und verantwortungsvolle Aufgabe als Präsident und Wissenschaftler beim DIW Berlin. Alles andere ist Spekulation.

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