Frau Kugel, geschlechtergerechte Sprache, also Gendern, ist in. Audi empfiehlt unter anderem die Schreibweise Audianer_innen. Andere nutzen einen Doppelpunkt oder das Sternchensymbol, um niemanden zu diskriminieren. Wie halten Sie es?
Janina Kugel: Ich habe gerade ein Buch mit dem Titel "It’s now. Leben, Führen, Arbeiten" geschrieben, das im April erscheint. In dem Buch gendere ich mit Sternchen.
In Ihrer geschlechtergerechten Sprache wäre also von den Audianer*innen die Rede. Ist das nicht verwirrend für viele, gerade ältere Menschen?
Kugel: Beim Schreiben der ersten Kapitel meines Buches habe ich noch nicht gegendert. Dann habe ich zu mir selbst gesagt: Janina, du schreibst in dem Buch so viel über Rollenmodelle und auch Gendergerechtigkeit, natürlich musst du gendern! Sprache ist eben auch Teil der Wahrnehmung. Mein Ziel ist es jetzt, gendergerecht zu sprechen.
Wie geht das denn?
Kugel: Statt Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen will ich künftig Mitarbeiter*innen sagen.
Wie spricht man das Sternchen aus?
Kugel: Durch ein kurzes Innehalten in dem Wort zwischen Mitarbeiter und innen.
Das erfordert Übung.
Kugel: Ich freue mich jedenfalls über mich selbst, wenn es mir gelingt, Worte wie Mitarbeiter*innen gendergerecht auszusprechen. Unlängst ist es mir mehrfach bei einer Veranstaltung geglückt, das Sternchen, also diese kurze Pause zu sprechen. Junge Frauen und Männer können das oft sehr gut. Beneidenswert!
Gendern nicht vor allem Frauen?
Kugel: Nein, auch Männer. Die jüngeren Leute sprechen das Sternchen ganz natürlich aus. Man muss da konsequent sein. Ich habe einmal einen Gastbeitrag geschrieben. Dort hieß es: Wir gendern nicht.
Was haben Sie geantwortet?
Kugel: Ich schon. Mein Text wurde dann doch gegendert abgedruckt, also mit dem Sternchen. Gerade jüngere Menschen machen sich schon im Teenageralter Gedanken darüber, welche sexuelle Orientierung sie haben: Bin ich wirklich ein Junge? Bin ich wirklich ein Mädchen? Sprache sollte ebenfalls inklusiv sein.
Ihre Nichte hat Sie einmal gefragt, was ein Mann eigentlich tun müsse, um Kanzlerin zu werden. Hat die Gleichberechtigung unter Frau Merkel einen Push erfahren?
Kugel: Leider nicht. Ich schätze Frau Merkel in vieler Hinsicht sehr, aber in Sachen Gleichberechtigung ist Deutschland weit abgeschlagen.
Warum das denn? Frau Merkel ist doch eine sehr emanzipierte Frau.
Kugel: Doch was die wirkliche Gleichberechtigung von Mann und Frau betrifft, hat sie in ihrer Amtszeit nicht so viel vorangebracht, wie ich mir das von ihr gewünscht hätte. Erst seit wenigen Jahren äußert sich die Kanzlerin zum Thema "Frau und Mann". Aber Impulse für mehr Gleichberechtigung in Deutschlands Gesetzgebungen fehlen.
Doch Frau Merkel hat ein Beispiel dafür gesetzt, was Frauen alles erreichen können.
Kugel: Natürlich hat Frau Merkel die Wahrnehmung auf Frauen verändert, weltweit. So lässt sich auch die Frage meiner Nichte vor sieben Jahren erklären. Sie war damals in der Grundschule und lebte in einer Welt, in der immer nur eine Frau Kanzlerin war. Sie wusste nicht, dass auch Männer Kanzler sein können. Es kommt eben auf die Wahrnehmung an. Es ist ja auch nicht so, dass Männer böser als Frauen sind. Und Frauen sind auch nicht besser als Männer. Es geht, das zeigen die Erkenntnisse der Soziologie, vielmehr darum, dass Menschen sich gerne mit Menschen umgeben, die so ähnlich sind wie sie selbst.
Viele Menschen achten eben darauf, dass die Chemie stimmt.
Kugel: Und suchen sich dann Leute aus, die so sind wie sie.
Was ist daran so gefährlich?
Kugel: Weil man unter sich bleibt und sich gegenseitig in Vorurteilen bestärkt. Viele Vorurteile sind unbewusst verankert und beeinflussen dennoch stark unser Handeln. Dazu muss man nur online den Implicit-Association-Test der Harvard-Universität machen, den man auch auf Deutsch findet und der anonym ist.
Was kam bei Ihrem Test heraus?
Kugel: Obwohl ich 51 Jahre alt bin und mich seit vielen Jahren mit dem Thema "Diversity", also dem bewussten Umgang mit der Vielfalt in der Gesellschaft, beschäftige, kam bei meinem Test heraus, dass ich eine positive Einstellung gegenüber weißen Männern habe. Das ist halt die Welt, in der ich lebe, ob ich Zeitung lese, den Fernseher anschalte und an beruflichen Treffen teilnehme. In meiner Welt sind die Entscheider eben meist weiße Männer.
Ist das so schlimm?
Kugel: Schlimm hin oder her. Die Bevölkerung ist überall vielfältiger als die Menschen in Führungspositionen. Das muss sich ändern, damit auch Entscheidungen, die die ganze Bevölkerung betreffen, mehr Perspektiven abdecken. In Deutschland stelle ich immer wieder die Frage: Wann lernen wir, dass es Menschen gibt, die in Deutschland leben, Deutsche sind und doch anders aussehen, als man sich vor 100 Jahren noch stereotyperweise den oder die Deutsche vorgestellt hat. Und dass das normal ist.
Welchen Vorurteilen sind Sie ausgesetzt?
Kugel: Wenn ich sage, dass ich aus Stuttgart stamme, fragen mich viele: Ja aber woher kommen Sie denn wirklich? Deutschland muss endlich begreifen, dass wir ein Einwanderungsland sind. Ohne Einwanderung könnte der Bedarf an Facharbeiter*innen in diesem immer älter werdenden Land nicht gedeckt werden. Wir brauchen Zuwanderung.
Wie können Menschen trotz ihrer unbewussten Vorurteile offener werden?
Kugel: Wir brauchen unterschiedliche Rollenvorbilder in der Gesellschaft. Von allein funktioniert das allerdings fast nirgends, daher die Diskussionen um Quoten. Um die Wirksamkeit von Quoten zu verstehen, muss man allerdings in die Soziologie einsteigen: Wenn in einer Gruppe weniger als 30 Prozent Andersdenkende sind, passt sich die Minorität immer an die Mehrheit an, weil sie keine andere Chance hat. Ein Beispiel aus dem Privaten: Wenn eine Frau ihre Freundinnen einlädt und der Mann kommt zu früh nach Hause und setzt sich dazu.
Kann das für einen Mann frustrierend werden.
Kugel: Ja, weil die Frauen mit ihren Themen einfach weitermachen. Keiner nimmt auf den Mann Rücksicht. Und im Beruflichen ist es ähnlich, nur oft andersrum. Aber wenn es in einem Team 30 Prozent Andersdenkende gibt, werden andere Meinungen zugelassen, auch wenn die Vertreter der Minorität nicht die gleiche Meinung äußern. Und dann bleiben im Übrigen auch blöde Witze gegenüber Minderheiten aus.
Was passiert, wenn nur eine Frau in einem Team ist?
Kugel: Wenn in einer Gruppe von zehn Personen nur eine Frau mitarbeitet und diese eine bestimmte Meinung vertritt, sagen die Männer später: Die Frauen wollen dies oder das, auch wenn es eigentlich nur eine einzige Frau war, die etwas gesagt hat. Das gilt übrigens auch für eine Gruppe, in der nur ein Mann, sonst aber Frauen vertreten sind. Die einzige Frau im Gremium steht schnell stellvertretend für alle Frauen. Und ich werde auch oft stellvertretend für alle schwarzen Menschen befragt. Das ist natürlich Unsinn, aber so ticken Menschen.
Haben Sie sich deshalb mit anderen Frauen wie der Schauspielerin Maria Furtwängler und der Soziologin Jutta Allmendinger für eine Quote für die Vorstände von Aktiengesellschaften und im öffentlichen Sektor eingesetzt?
Kugel: Ja auch, aber vor allem, weil sich Unternehmen jahrzehntelang selbst Ziele für höhere Frauenanteile in Führungspositionen gesetzt hatten, nur passiert ist dann wenig. Es scheint also, dass sich Strukturen ohne Quoten nicht verändern. Im Übrigen ist das keine Netiquette, sondern diverse Teams sind wirtschaftlich erfolgreicher und innovativer.
Sie selbst sagen über den Aufstieg als Frau bei Ihren früheren Arbeitgebern Osram und Siemens: "Ich habe nie Nachteile verspürt." Es geht also auch ohne Quote.
Kugel: Ich komme aus einem akademischen, bildungsbürgerlichen Haushalt. Meine Eltern haben beide gearbeitet und eine gleichberechtigte Beziehung gelebt. Das hat mich geprägt, auch meine Zeit als Unternehmensberaterin bei Einsätzen etwa in Skandinavien. Mit 30 Jahren war für mich völlig klar: Kinder und Karriere, das passt zusammen. In meiner Karriere habe ich, ob es bei der Unternehmensberatung Accenture, später bei Osram und Siemens war, fast nie erlebt, dass ich einen Job nicht bekommen habe, weil ich eine Frau bin. Als meine Zwillinge geboren wurden, war ich Abteilungsleiterin.
Was hat Ihr Chef gesagt?
Kugel: Ich war damals Mitte 30. Ich sagte zu ihm: Ich komme nach dem Mutterschutz wieder. Der Chef meines Chefs hatte Zweifel daran, ob ich wirklich wiederkomme. Aber mein Chef hat die Bedenken seines Chefs zerstreut und sich für mich eingesetzt. Ich kam dann auch nach dem Mutterschutz wieder.
Ein guter Mann und ein guter Chef.
Kugel: Ein sehr guter Chef. Er ist auch auf meinen Wunsch auf mehr Flexibilität als junge Mutter eingegangen. Aber man kann die Welt ja nicht auf Basis der persönlichen Erfahrungen definieren. Das wäre fahrlässig. Denn ich habe immer wieder erlebt, dass in Diskussionen die gleichen Verhaltensweisen von Frauen und Männern unterschiedlich bewertet werden. Männern wird einfach mehr zugetraut.
Als Kind in Stuttgart hatten Sie es schwer. Mit fünf Jahren gingen Sie an einem Spielplatz vorbei und einer nach dem anderen rief wegen Ihrer Hautfarbe beleidigende Worte.
Kugel: Das war noch eine andere Zeit, aber es passiert auch heute noch.
Hat es Sie stark gemacht, anders als die meisten anderen zu sein?
Kugel: Ja, vermutlich. Ich habe daraus Kraft geschöpft. Ich musste als Personalchefin, ob bei Osram oder Siemens, immer wieder Standorte und Unternehmensteile restrukturieren, was mit einem Abbau von Arbeitsplätzen einhergeht. Da hatte ich nicht nur die betroffenen Arbeitnehmer*innen, sondern auch automatisch die Gewerkschaft, die Betriebsräte und die öffentliche Meinung gegen mich. Aber nie gegen mich als Person, sondern es ging gegen die Personalvorständin.
Was haben Sie damals gelernt?
Kugel: Ich habe in meinem Leben gelernt, zwischen Rolle und Person zu unterscheiden. Wenn man das versteht, lässt sich Kritik viel besser aushalten. Man darf sich inhaltlich streiten, aber nie so persönlich werden, dass man kein Bier mehr miteinander trinken kann.
Wann brauchen wir keine Quoten mehr?
Kugel: Ich hoffe, bald. Aber realistisch dauert das noch lange. Wahrscheinlich lebe ich dann nicht mehr. Ich hoffe, dass unsere Gesellschaft diverser wird. Dabei geht es nicht nur um Frauen und Männer. Es geht mir darum, dass auch mehr Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen oder Ethnien, mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen und Menschen mit einer Behinderung sichtbarer in der Gesellschaft sind, also auch Führungspositionen in Wirtschaft und Politik bekleiden. Am Ziel sind wir erst, wenn Menschen wie ich nicht mehr gefragt werden, ob sie wirklich aus Stuttgart kommen oder Menschen mit nicht heterosexueller Orientierung nicht mehr sagen müssen, dass sie homosexuell oder queer sind, weil es keine Rolle spielt.
Zur Person: Janina Kugel, 51, stieg 2001 in die Siemens AG ein. 2009 wurde sie Personalleiterin von Siemens in Italien, ging dann zur damaligen Konzerntochter Osram und rückte 2015 als Arbeitsdirektorin in den Siemens-Vorstand auf. 2020 schied die Managerin bei Siemens aus. Nun arbeitet Kugel als Senior Advisor für die Boston Consulting Group und ist Aufsichtsrätin des Pensions-Sicherungs-Vereins und des finnischen Unternehmens Konecranes.
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