Politiker und Journalisten hauen das Wort „Schande“ immer dann auf den Tisch, wenn ein abstoßender Vorgang zu beschreiben ist. So nannte der Sportreporter Eberhard Stanjek das Ballgeschiebe der deutschen und der österreichischen Mannschaft bei der Weltmeisterschaft 1982 in Spanien nun wirklich zu Recht eine „Schande“. Der schäbige „Nichtangriffspakt“ von Gijón sicherte beiden Teams den Einzug in die nächste Runde.
Eine Steigerung zum Ausruf „Schande!“ ist aus nationaler Sicht die Empörungsformel „Schande für Deutschland!“. CDU-Spitzenpolitiker Wolfgang Schäuble bediente sich der skandalisierenden Worte wiederum völlig berechtigt, nachdem die damalige AfD-Parteichefin Frauke Petry schwadroniert hatte, Flüchtlinge müssten notfalls mit Waffengewalt am illegalen Grenzübertritt gehindert werden. Die Kommentierung „Schande für Deutschland“ ist aus sprachhistorischer Sicht also hinreichend stark emotional aufgeladen.
Wirecard steckt mitten in einem der größten Firmenskandale in der deutschen Finanzgeschichte
Deswegen ist davon auszugehen, dass der Chef der deutschen Finanz- und Börsenaufsicht Bafin, Felix Hufeld, wusste, in welchem Sprach-Fahrwasser er sich befindet. Der Jurist ordnete nämlich den Skandalfall „Wirecard“ als „Schande für Deutschland“ in das lange heimische Sündenregister ein. Seine Wortwahl hallt umso mehr nach, da Hufeld anders als Schäuble nicht mit gelegentlichen verbalen Neigungen zum Kraft-Deutschen aufgefallen ist.
Die Analyse des Bafin-Chefs trifft ins Schwarze, wie es schon seinen beiden verbalen Schande-Vorgängern Schäuble und Stanjek vergönnt war. Denn dass der Online-Bezahlabwickler Wirecard einräumen musste, rund ein Viertel der Bilanzsumme, also unglaubliche rund 1,9 Milliarden Euro, seien mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Luftnummer, ist Kern eines der größten Firmenskandale der deutschen Finanzgeschichte.
Doch die Affäre hat eine weitaus größere Dimension und kommt tatsächlich einer Schande für Deutschland gleich, weil schon jetzt nach der massiven Selbstkritik Hufelds klar ist: Sowohl die Aufsichtsbehörde Bafin als auch die Wirtschaftsprüfer von EY (Ernst & Young) hätten das undurchsichtige Finanzgeflecht von Wirecard früher und hartnäckiger auseinandernehmen müssen.
Dabei ist es naiv, wie Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier zu behaupten: „Wir hätten eine solche Situation überall erwartet – nur nicht in Deutschland.“ Es waren nämlich nicht nur amerikanische Hochstapler, wie Manager des US-Energiekonzerns Enron, die Gewinne zu hoch ausgewiesen haben und in ihrem kriminellen Treiben von zu laschen Rating-Agenturen und Wirtschaftsprüfern lange begünstigt wurden.
Wirtschaftliche Lügengebäude wie Wirecard werden immer noch zu spät enttarnt
Hierzulande gab es in der Zeit des Börsenirrsinns um die Jahrtausendwende viele kleine giftige Enrons: Die von Bodo Schnabel gegründete Comroad AG narrte als Produzent von Telematik-Systemen und Navigations-Computern Anleger, schließlich waren rund 95 Prozent der Umsätze frei erfunden.
Und ein gewisser Manfred Schmider („Big Manni“) führte mit seiner Firma Flowtex dank in der Mehrzahl nicht existierender Horizontalbohrmaschinen Geschäftspartner wie Landespolitiker in Baden-Württemberg an der Nase herum. Der Fall „Wirecard“ wirkt wie eine aberwitzige Neuauflage der Comroad- und Flowtex-Skandale.
Die eigentliche Zumutung besteht indes darin, dass nach rund 20 möglichen Lehrjahren wirtschaftliche Lügengebäude von Aufsehern immer noch nicht oder zu spät enttarnt werden. Bei Comroad wurde der harte Job von der Journalistin Renate Daum geleistet, bei Wirecard vom Financial-Times-Reporter Dan McCrum. Ohne solch exzellente Journalisten würde Schande viel länger schlummern.
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