Klar, im Mannschaftshotel der Ungarn in Weiler wurde vermutlich Tacheles geredet. Dass es großteils Murks war, wie sie gegen die Schweiz ins Turnier gestartet sind. Dass die Abwehr zu löchrig und die Offensive zu harmlos war. Und dass sich ihr italienischer Trainer Marco Rossi vom eidgenössischen Kollegen Murat Yakin hat taktisch über den Tisch ziehen lassen. Ja, immerhin selbstkritisch waren sie. Wie differenziert sie mit ihrer schwachen Vorstellung wirklich umgingen, bleibt dagegen ein Rätsel.
Denn im EM-Quartier im Westallgäu gaben sich Spieler und Verantwortliche schmallippig. Eine kurze Pressekonferenz am Sonntag, bei der mit Martin Adam zwar ein sehr ausdrucksstarker Typ präsentiert wurde (der Kicker bezeichnete ihn als "Koloss mit Rauschebart"), der aber wenig bis gar nichts Erhellendes zum 1:3 gegen die Schweiz beitragen wollte – oder konnte; schließlich stand er ja nur elf Minuten auf dem Platz. Auch am Montag hieß es im EM-Quartier "No media", keine Medien.
EM 2024: Der Pressesprecher der Ungarn versucht einzugreifen
Bei einer Kinder-Pressekonferenz durften Torhüter Péter Gulásci und Außenverteidiger Milos Kerkez über sportliche Belanglosigkeiten reden – wie ihre Lieblingsmahlzeiten (Burritos und Cevapcici) oder die größten Spaßvögel im Team (Daniel Gazdag und Roland Sallai). Der Pressesprecher des ungarischen Verbandes hatte sogar dem Reporter der Regionalzeitung untersagen wollen, die Zitate der Spieler zu verwenden – mit dem Hinweis, das sei doch alles sehr privat –, und wenn einer der Spieler jetzt die Ansage raushauen würde, dass Ungarn Europameister werden will, dann solle diese Schlagzeile doch bloß nicht hinausgehen von der alten Turnhalle Weiler in die große Welt.
Gulásci und Kerkez aber machten es dem Presseverantwortlichen und dem Journalisten leicht, weil sie nur Späßchen machten, die selbst die Acht- bis 15-jährigen Kinder und Jugendlichen nicht für seriös hielten. "Wir spielen gegen Deutschland mit zehn Stürmern. Ich hoffe, Julian Nagelsmann hört jetzt zu", witzelte Gulásci. Das Spiel gegen Deutschland, und dann wurde es doch wieder etwas sachlicher, wollen die Ungarn nutzen, um die Scharte gegen die Schweiz auszumerzen. Gulásci wörtlich: "Es wäre enorm wichtig, gegen Deutschland zu punkten und dann ein Endspiel zu schaffen gegen Schottland."
Mehr war aus Weiler, dem Epizentrum des ungarischen Fußballs, nicht zu erfahren. Auch die Trainings am Montag und Dienstag (bevor es per Bus nach Stuttgart ging) liefen unter Ausschluss der Öffentlichkeit ab. So drehte ein Sky-Kamerateam halt beim Bäcker und rund ums Hotel, und das ungarische Fernsehen stürzte sich auf Karl-Heinz Riedle, der in seinem Heimatort auch kurz Hallo sagte im Teamhotel der Ungarn. Der Weltmeister von 1990 haderte ein klein wenig mit sich selbst. Deutschland sei momentan zu stark für die Ungarn – und werde gewinnen. Aber nein, einen Punkt würde er den Magyaren schon auch gönnen, damit die nicht vorzeitig aus Weiler abreisen.
Doch an einen Strohhalm klammern sich die Ungarn in diesen Tagen sehr gern. Sie haben die letzten drei Spiele gegen Deutschland nicht verloren. Seit Juni 2021 gab’s zwei Unentschieden – und in der Nations League ein denkwürdiges 1:0 in Leipzig, Hansi Flicks erste Niederlage mit der Nationalmannschaft. Was viele Ungarn übrigens als späte Rache für das viel denkwürdigere 2:3 im WM-Finale 1954 in Bern gewertet haben. "Wir wissen, wie man Deutschland schlägt", wurde in den letzten Tagen bei den Ungarn fast zum Mantra. 70 Jahre nach dem "Wunder von Bern" scheinen sie nur eins herbeizusehnen: Das Wunder von Stuttgart.