Vor ziemlich genau einem Jahr sah die Welt für die deutsche Nationalmannschaft nicht gut aus. Ende November stand ein Doppelspieltag an: In Berlin ging es gegen die Türkei, wenige Tage später in Wien gegen Österreich. Beide Partien gerieten zum Fiasko. Auch die Begleitumstände fügten sich ein: Beim 2:3 gegen die Türken in Berlin verlor die DFB-Auswahl vor einer Kulisse, die an ein Auswärtsspiel erinnerte. Beim 0:2 in Wien hatte ein Platzverweis von Leroy Sané die Österreicher auf die Siegesstraße gebracht. Bundestrainer Julian Nagelsmann hatte gegen die Türkei noch Stürmer Kai Havertz als Linksverteidiger in einer Fünferkette getestet. Für die EM sahen viele Beobachter schwarz. Das alles sei nochmals erwähnt, bevor die DFB-Auswahl am Dienstagabend in Ungarn (20.45, ZDF) zum letzten Länderspiel des Jahres 2024 antreten wird.
Hinter der DFB-Auswahl liegen nicht nur eine Heim-EM, sondern auch 14 Spiele. Die Bilanz: zehn Siege (davon zwei gegen die Niederlande, einer gegen Frankreich, furiose Erfolge gab es gegen Schottland und Bosnien), drei Remis – und eben eine Niederlage. Diese fand bekanntermaßen im Viertelfinale gegen Spanien und damit zu einem ungünstigen Moment statt. Ansonsten hätte aber wohl kaum jemand der deutschen Auswahl ein derartiges Jahr zugetraut. Wenn es nun in Budapest gegen die Gastgeber geht, „gibt die Tabellensituation keine große Motivation her“, wie Nagelsmann in der Pressekonferenz sagte. In der Nations League, mit der die DFB-Auswahl oft fremdelte, steht Deutschland vor dem letzten Spieltag schon als Gruppensieger fest und darf erstmals seit deren Einführung 2018 im Halbfinale, der „Final Four“, antreten.
Bundestrainer Nagelsmanns ist vom Gegenpressing seines Teams beeindruckt
Das Ergebnis sei somit nicht alles entscheidend, sehr wohl aber die Art und Weise, wie die Spieler den Jahresabschluss angehen, sagte Nagelsmann und dürfte dabei jenen unrühmlichen Schlusspunkt vor einem Jahr in Wien noch im Kopf haben. Überrascht sei er nicht gewesen, was das Team zu leisten imstande sei: „Wenn ich eine Mannschaft übernehme, habe ich die Idee, dass sie gut ist. Sonst würde ich sie nicht übernehmen.“ Eine positive Entwicklung habe das Team in allen Bereichen hingelegt. Eine Sache steche aber für den Bundestrainer besonders heraus: das Gegenpressing, mit dem gemeinhin die Arbeit gegen den Ball nach eigenem Ballverlust bezeichnet wird. In Nagelsmanns Sprachschatz ist eine Qualität wie diese als „talentfrei“ definiert. Das mag witzig klingen, ist es aber nicht: Eine talentfreie Stärke kann sich jeder erwerben, muss das aber durch Einsatz schaffen. Je mehr wiederum talentfrei gearbeitet wird, desto besser sei das Zeugnis, das man der Mannschaft ausstellen kann. Und das Gegenpressing der deutschen Nationalmannschaft ist für Nagelsmann „am beeindruckendsten“: „Da sind wir mit acht Spielern gegen den Ball unterwegs. Das sieht man auch im Vereinsfußball nicht so oft.“
Auch Nagelsmann hat sich entwickelt. Der 36-Jährige, der als Vereinstrainer in Hoffenheim, Leipzig und den Bayern noch für große taktische Varianz stand, wollte zu Beginn beim DFB zu viel auf einmal. Nagelsmann wechselte Taktik und Personal, versuchte einige wilde Dinge wie Havertz als Linksverteidiger und scheiterte damit. Nach dem Systemabsturz im November vergangenen Jahres startete auch der Bundestrainer neu, verordnete so klare Strukturen und Rollen wie selten. Das Ziel: Sicherheiten und Automatismen statt taktischer Finessen. Toni Kroos, den er für die EM aus der Nationalmannschafts-Rente zurück geholt hatte, sagte über Nagelsmann: „Er hat ganz klare Rollen verteilt, dass du weißt: Okay, du bist der, der spielt. Du bist der, der die Chance hat zu spielen. Und du bist der, der im Normalfall nicht spielt.“ Diese Rollen könne man annehmen – oder nicht. „Dann guckst du im Fernseher zu.“ Mit dieser simplen Klarheit sollte Unzufriedenheit vermieden werden.
Nur die Videoleinwand in Budapest sorgte diesmal für einen Systemabsturz
Geblieben ist der DFB-Auswahl ein Konzept, das tragfähig scheint, um an die wirklich guten Zeiten anzuknüpfen. „Wir wollen diesen Weg weiter gehen“, sagte Nagelsmann. Personelle Wechsel werde es gegen Ungarn einige geben, das Gerüst ist aber unabhängig von Einzelpersonen. Wer neu reinkommt, wollte Nagelsmann nicht genau sagen, ließ aber durchblicken, dass etwa Leroy Sané „eine längere Einsatzzeit“ als gegen Bosnien erhalten werde, als er nach seiner Einwechslung ein Tor erzielte. Nico Schlotterbeck wird den gesperrten Jonathan Tah ersetzen, Alexander Nübel eine Chance im Tor erhalten. Einen Systemabsturz gab es bei der Pressekonferenz in Budapest aber doch noch: Die Videoleinwand im Hintergrund versagte nach wenigen Minuten und zeigte statt bunter Sponsorenvielfalt nur noch Schwarz. Der DFB dürfte es verschmerzt haben.
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