Was sie wohl damit meinte? Als Cheftrainerin Annett Stein bei ihrer Zwischenbilanz der Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Budapest von einem "sehr guten Start" der deutschen Leichtathletinnen und Leichtathleten sprach, blickten sich die anwesenden Medienvertreter fragend an. Hat sie das jetzt wirklich gerade gesagt? Ja hat sie! Und sie hat es sogar so gemeint. Man wisse ja, dass der DLV mit einem geschwächten Team an den Start gegangen sei, weil im Vorfeld doch eine Reihe von Verletzungen verschmerzt werden hätten müssen, so Stein. Um dann vielleicht die Begründung dahinter für die plakativ zur Schau gestellte Zufriedenheit zu liefern: "Wir möchten das Ergebnis von Eugene verbessern." Und deshalb sei man zufrieden mit der "Leistungsdarstellung” der Athleten in Ungarn.
Wohlan, lasst Fakten sprechen: Besser als in Eugene sind sie auch jetzt noch nicht, da die Weltmeisterschaften schon am Sonntagabend zu Ende gehen. Die Medaillenbilanz am vorletzten Tag der Titelkämpfe an der Donau sieht zappenduster aus. Selbst der loyale ARD-Experte Frank Busemann frotzelte zwischenzeitlich schon, dass Deutschland im Medaillenspiegel hinter der leichtathletischen Großmacht Burkina Faso liege, dessen Dreispringer Hugues Fabrice Zango Gold holte. Deutschlands Edelmetallbilanz bisher? Null! Aber Annett Stein geht es mittlerweile um etwas anderes. "Wir haben sieben Top-Acht-Platzierungen, sechs persönliche Bestleistungen und zehn Saisonbestleistungen", erklärte sie stolz. In dieser Hinsicht sei man schon besser als bei der desaströsen WM im Vorjahr in Eugene. Und die Trumpfkarten im Zehnkampf mit Leo Neugebauer und im Speerwerfen mit Julian Weber würden ja erst am Wochenende ausgespielt. Neugebauers starker erster Tag lässt vermuten, dass die Medaillendürre am Samstag endet.
Warum aber sind die anderen Nationen erfolgreicher?
Die Stimmung im Teamhotel sei hervorragend, betonen gebetsmühlenartig alle, die dort logieren. Mag sein. Und, dass die unselige Hatz auf Edelmetall den Blick auf die Entwicklung wirklich vielversprechender Talente verstellt, wie etwa der Kugelstoßerin Yemesi Ogunleye, der 3000-Meter-Hindernisläuferin Olivia Gürth oder des 400-Meter-Hürden-Endlaufteilnehmers Joshua Abuaku. Auch müssen Platzierungen abseits des Treppchens nicht zwingend eine Enttäuschung sein, wie die fünften Ränge von Hochspringer Tobias Potye oder des bärenstarken Gehers Christopher Linke, dem zwei Mal ein deutscher Rekord gelang, der aber zur Kenntnis nehmen musste, dass die Weltspitze eben einen Tick schneller war. Oder einfach professioneller.
Man könne "nicht nur gucken, ob wir eine Medaille gewinnen", analysierte Linke am Donnerstag, "sondern auch beachten: Wie weit hat sich die Welt im Vergleich zu Deutschland entwickelt. Und da haben wir irgendwas verpasst." Was genau, erklärte er kurz darauf. Andere Nationen besäßen schlicht bessere Trainingsbedingungen. "Ich arbeite teilweise mit amateurhaften Mitteln. In Italien, China oder Japan gibt es zum Beispiel Hitzekammern. Ich habe mein Hitzetraining vor einer offenen Saunatüre absolviert."
Ein Aspekt. Ein anderer sind teilweise überholte Trainingskonzepte und Technikbilder. Sich zu öffnen, andere Ideen aufzugreifen, kann eine Tugend sein. Andere Trainer gehen teilweise in die Welt, Kompetenz werde reihum eingekauft, stellte Bundestrainerin Stein fest. Andersrum würde auch ein Schuh draus: Schon Gina Lückenkemper monierte zu Recht, dass es einem Bundestrainer nicht erlaubt sei, Sportler anderer Nationalitäten zu coachen, während sie in Florida festes Mitglied der Trainingsgruppe um US-Weltmeister Noah Lyles sei. So etwas öffnet Horizonte. Noch ein Fakt: Wenn die Weltspitze zum absoluten Höhepunkt der Saison noch eine Schippe drauflegt, wird die Luft für die DLV-Asse dünner.
Es gibt zahlreiche deutsche Talente
Ärgerliche Pannen wie das Aus des hochbegabten, aber scheinbar unbelehrbaren Wiederholungstäters Joshua Hartmann über 200 Meter (er trug auch zum Ausscheiden der deutschen Sprintstaffel bei der EM in München bei) hinterlassen Fragen. Andere wiederum haben geliefert. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Die aber sind für deutsche Athletinnen und Athleten in der Breite derzeit eher begrenzt. Dabei verfügt der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) über einen beachtlichen Fundus an Talenten, wie zuletzt die U20-Europameisterschaften in Jerusalem eindrucksvoll unter Beweis stellten. Am Übergang vom Jugend- in den Erwachsenenbereich, von der Schulzeit zu Studium oder Profikarriere hapert es jedoch nach wie vor, und eine monatliche Unterstützung für die Top acht bei Olympia durch die deutsche Sporthilfe gleicht mehr einer Spende denn einer realen Unterstützung.
Spätestens 2028 will der DLV wieder zu den fünf erfolgreichsten Verbänden der Welt gehören. Viele nach Eugene eingeleitete Veränderungen greifen natürlich nicht sofort, sondern brauchen Zeit. Medaillenzählen mag wohl ein Grundübel des Sports sein, für eine Standortbestimmung ist es jedoch unerlässlich. Und Annett Stein bringt es auf den Punkt, wenn sie schlussfolgert: "Wir reden oft nur über Medaillen. Aber das Finale ist auf jeden Fall eine Leistung, die es wertzuschätzen gilt." Das seien nun mal "Entwicklungsschritte in Richtung Olympia". In der Lesart der deutschen Leichtathletik heißt das wohl für Budapest: Eine Endkampfplatzierung ist die neue Medaille.