Hansi Flick war schon im Teamhotel verschwunden, als die frustrierte Bayern-Fraktion um Manuel Neuer und Thomas Müller pünktlich in zwei schwarzen Kleinbussen am Haupteingang vorfuhr. Der WM-Countdown läuft.
Das war beim Einzug der Nationalmannschaft ins Quartier in Gravenbruch bei Frankfurt deutlich zu spüren. Die Münchner Fußball-Nationalspieler schrieben noch schnell ein paar Autogramme, wie es zuvor die Kollegen um Antonio Rüdiger getan hatten, der in einem knallgrünen Cord-Anzug der Blickfang war.
Debatte um die Lage in Katar
"Das sind die letzten Eindrücke, die wir gewinnen können, auch die Mannschaft zusammenzuhaben. Deswegen werden das sehr fokussierte, konzentrierte Tage", sagte DFB-Direktor Oliver Bierhoff vor der WM-Generalprobe mit den wichtigen letzten Gruppenspielen in der Nations League. Gegen Ungarn am 23. September in Leipzig und drei Tage später in London gegen England soll nicht nur der WM-Feinschliff gelingen, sondern auch noch Platz eins und damit die Teilnahme am Final-Four-Turnier im kommenden Sommer gesichert werden.
Nur der Ball rollte noch nicht. Das Premierentraining auf dem neuen Campus-Gelände des DFB musste warten. Marketing und Menschenrechte waren am Ankunftstag die Schlagworte als passendes Muster für den großen Zwiespalt neun Wochen vor dem Anpfiff in Katar. Während Kapitän Neuer und seine 23 Kollegen für Werbespots vor der Kamera posierten, beschrieb Bierhoff am Vormittag bei einem DFB-Kongress die große Problematik auch für Flick. Über dem Titeltraum am Golf schwebt die Debatte um die Lage in Katar, der sich auch der Bundestrainer mit seinen Spielern nur schwer entziehen kann.
Der Spagat zwichen Politik und Fußball
Noch vor der Partie gegen Überraschungstabellenführer Ungarn soll es weitere Briefings in Gesellschaftskunde für die Nationalspieler geben. Bierhoff machte aber auch klar. Politik ist wichtig und Fußball ab einem bestimmten Zeitpunkt wichtiger. "Wir müssen darauf achten, diesen Spagat zu finden, zwischen der Verantwortung und dem Bewusstsein, das wir als Menschen haben. Auf der anderen Seite gehen wir als deutsche Fußball-Nationalmannschaft rüber. Wir vertreten unser Land, wir wollen erfolgreich Fußball spielen", sagte Bierhoff.
Die Katar-Kritik dürfe "nicht dazu führen, dass wir keine Lust am Turnier haben. Sondern, dass wir uns auf eine Weltmeisterschaft freuen, auf das Messen mit den Besten der Welt, dass wir Deutschland vertreten können und hoffentlich den nächsten Stern holen", lautete Bierhoffs sportliche Vorgabe.
"Wir wollen mit der besten Elf spielen"
Flick hat längst versichert, dass er schon im WM-Tunnel ist. "Deswegen müssen wir jetzt in den Turniermodus reingehen und von Anfang an da sein", formulierte er die Ansprüche an seine Spieler, seinen Stab und sich selbst. Gegen Ungarn und England gebe es auch keine Experimente mehr: "Wir wollen mit der besten Elf spielen."
Die besondere Note: Das Einspielen für Katar hat wegen der Hatz durch die vielen Wettbewerbe ohnehin einen Ernstfall-Charakter. Flick will in der einst ungeliebten Nations League unbedingt noch Gruppensieger werden, damit 2023 nicht zu einem reinen Testspieljahr verkommt. Siege gegen Ungarn und England sichern diesen Plan.
"Wir haben uns zum Ziel gesetzt, dass wir im Sommer das Final Four spielen wollen, weil es ein großer Erfolg für uns wäre, die Gruppenphase als Erster zu bestehen. Aber es wären für uns auch die einzigen beiden Pflichtspiele, die wir dann hätten", sagte Flick. Bierhoff sieht als praktischen Nebeneffekt noch einen WM-Nutzen: "Für uns wäre es ein Prestige, es wäre eine Meldung und ein Aufbau von Selbstvertrauen, dieser Erfolg würde der Mannschaft gut tun."
Gut tun sollen speziell den sieben Bayern-Profis um Neuer sowie die Antreiber Müller und Joshua Kimmich die Tage bei der Nationalelf nach der Münchner Sieglos-Serie in der Bundesliga. Flick braucht sie in Katar dringend als auf Top-Level funktionierender Block. "Jetzt wird es erstmal eine ungemütliche Länderspielpause", meinte Leon Goretzka zur kritischen Situation in München. Die Nations League als WM-Countdown kann da zur Ablenkung richtig gut tun.
(Von Arne Richter und Klaus Bergmann, dpa)