Letztmals war ein derart steil aufgestellter Kragen an Eric Cantona zu bewundern. Der Franzose trug ihn, wenn er den Ball ins Tor streichelte, Gegenspieler narrte oder Zuschauer per Kung-Fu-Tritt zu Boden beförderte. Julian Nagelsmann springt nicht ins Publikum, allenfalls geht er nach einer Partie zu seiner Partnerin Lena Wurzenberger und holt sich ein Küsschen ab. Während der Europameisterschaft trug sie ein Trikot, auf dessen Rückseite „Julsi“ stand.
Der Bundes-Julsi saß also am Montag unweit jenes Platzes, von dem aus er vor etwa zwei Monaten zur Nation gesprochen hatte. Diesmal Kragen nach oben, damals Stimmung unten. Weil am Abend zuvor dieser vermaledeite Schiedsrichter nicht erkennen wollte, dass Marc Cucurella den Ball einzig und allein mit Absicht und Hand aus der Gefahrenzone geboxt hatte. Und weil Mikel Merino sich kurz vor Ablauf der Verlängerung zugegebenermaßen formvollendet in eine Flanke geschraubt hatte, um den Ball zum 2:1-Sieg Spaniens ins Tor zu köpfen. Viertelfinal-Aus. Einen Tag später: Auftritt des Bundestrainerpräsidenten im sogenannten Home Ground. Oder auch Team Base Camp. Dort auf jeden Fall, wo Sponsor Adidas ein Bungalow-Dorf errichtet hatte, in dem es der deutschen Mannschaft leicht gemacht wurde, Basistugenden wiederzuentdecken.
Da sprach einer über Zusammenhalt, und weil er es aufrichtig meinte und über das Rasenviereck hinaus dachte, verfing die Botschaft. Zumindest für wenige Tage. Grundlegende Werte, deren Verbalisierung normalerweise Frank-Walter Steinmeier vorbehalten wären. Ganz vielleicht redet der ja sogar darüber. Anlässe gäbe es ja durchaus. Ukraine, Solingen, Wahlen in Thüringen und Sachsen – überall das Einnehmen extremer Positionen. Mal nach links, mal nach rechts. Dabei wäre doch der Zusammenhalt im Zentrum wünschenswert. Falls nun aber der Bundespräsident tatsächlich darüber spricht, fehlt ihm auch der Resonanzkörper, den so emotionalisiertes Publikum darstellt. Nagelsmann wiederum konnte auf das größtmögliche Auditorium verweisen. Fußball funktioniert einfach immer noch. Fünf gute EM-Spiele versöhnten die Fans mit der Nationalmannschaft. Zweifelsfrei ein Verdienst von Nagelsmann.
Die Fußballer müssen nicht mehr als politische Botschafter auftreten
Die deutschen Anhängerinnen und Anhänger ließen sich von der Mannschaft derart mitreißen, dass sie ins niederländische Gaudium einstiegen und von links naar rechts und wieder zurück hüpften. Eine Wählerwanderung der anderen Art. Nur wenige Wochen her und doch schon wieder aus der Zeit gefallen. Am Ende ist Fußball dann eben doch nur Fußball. Der Sport verbindet freilich. Da jubelt ein AfD-Wähler mit der veganen Grünen im Arm über ein Füllkrug-Tor. Der Sport verbindet aber nur selten über den Sport hinaus. Für die Nationalmannschaft hat das vorerst kaum eine Bewandtnis. Möglicherweise ist es sogar beruhigend. Vor der WM in Katar fühlten sich die Spieler von Medien und Politikern noch zu Statements gezwungen, waren Botschafter westlicher Werte in Noppenschuhen. Das lief weniger gut. Mittlerweile sind die Spieler wieder hauptsächlich Spieler und der Bundestrainer kann seiner Haupt- und Basisaufgabe nachkommen: als Trainer.
An diesem Samstag (20.45 Uhr, ZDF) bestreitet die Nationalmannschaft das erste Spiel nach der Europameisterschaft. Gegner in der Nations League in Düsseldorf sind die Ungarn. Die hatte die DFB-Elf während der EM im zweiten Gruppenspiel recht problemlos mit 2:0 bezwungen. Den zweiten Treffer hatte damals Ilkay Gündogan beigesteuert, der während des Turniers seine beste Phase im Nationalmannschafts-Dress erlebte. Als Kapitän dirigierte er zusammen mit Toni Kroos das Spiel auf jene Art, wie es sich zuvor auch schon Joachim Löw und Hansi Flick von ihm erhofft hatten.
Nicht jede Hoffnung wird erfüllt. Gündogan ist mittlerweile zurückgetreten, Kroos war ja sowieso nur für die EM zurückgekehrt, außerdem haben Manuel Neuer und Thomas Müller ihre Länderspielkarrieren mittlerweile beendet. Was nach Umbruch klingt, ist ein Umbrüchchen. So findet sich mit Angelo Stiller lediglich ein Spieler im Kader, der noch keine Partie im Nationaldress absolviert hat. Gleichwohl gehen mit Rücktritten neue Findungsprozesse einher. Wer findet Sprachbilder wie Thomas Müller, um Siege, Niederlagen und alles, was dazwischen liegt, zu erklären? Wer soll im Zentrum des Spiels zueinanderfinden? Und findet Marc-André ter Stegen im Tor zur gleichen Form, die ihn in Barcelona zum Messi mit Handschuhen gemacht hat?
Am wichtigsten aber: Findet Julian Nagelsmann in seine neue Rolle? Nun nämlich beginnt die eigentliche Arbeit eines Bundestrainers. Heim-EM und die Vorbereitung darauf sind ja einmalige Sondereffekte. Bislang war der 37-Jährige mit Reparatur-Maßnahmen beschäftigt, um ein sichtlich angeschlagenes Team in einen vorzeigbaren Zustand zu versetzen. Mithilfe des weltbekannten Statikers Toni Kroos gelang ihm das vortrefflich. So vortrefflich, dass Nagelsmann sagte, er wolle grundsätzlich gar nicht viel an der Spielidee herumschrauben.
Ideen sind das eine, wichtiger ist, wie sie mit Leben gefüllt werden. Hier dürfte Joshua Kimmich eine tragende Rolle zukommen. Der neue Kapitän kommt weitaus sendungsbewusster daher als seine Vorgänger Gündogan und Neuer. Zugleich sehen ihn etliche Fans kritisch – was zumindest bemerkenswert ist. Immerhin spielte er unter allerhand hochdekorierter Facharbeiter an der Linie eine tragende Rolle. Weder Pep Guardiola, noch Carlo Ancelotti, Hansi Flick oder Thomas Tuchel wollten auf die Dienste Kimmichs verzichten. Dessen aggressive Terrier-Attitüde täuscht mitunter über seine herausragenden Qualitäten hinweg. Er mag nicht die schnellsten Beine haben, aber möglicherweise den schnellsten Kopf des Kaders.
Nagelsmann sieht ihn weiterhin als Rechtsverteidiger. Das bedeutet, dass im zentralen Bereich Akteure mit wenig Länderspielerfahrung das Spiel lenken sollen. Pascal Groß ist zwar schon 33 Jahre alt, lief aber erst achtmal mit dem Adler auf der Brust auf. Damit aber immerhin siebenmal häufiger als Aleksandar Pavlovic und auch nur zweimal weniger als Robert Andrich. Allesamt im Vergleich zu den fußballerisch luxuriös ausgestatteten Gündogan und Kroos eher solide Mittelklassewagen. Also in etwa das, was DFB-Sponsor Volkswagen im Produkt-Portfolio zu einem bezahlbaren Preis zu fehlen scheint.
Man verhandelte lange – weil der DFB nicht erfolgreich genug war
So viel Nachklang hat die Europameisterschaft immerhin, dass aus der Belegschaft des Automobil-Herstellers in Anbetracht drohender Kündigungen nicht der Ruf laut wird, das Alimentieren der Fußballer zu unterlassen. Vor der Europameisterschaft hatten die beiden Parteien bekannt gegeben, ihre seit 2019 andauernde Partnerschaft bis 2028 zu verlängern. Rund 20 Millionen zahlt der Konzern dafür jährlich. Der Verhandlungen hatten sich in die Länge gezogen, was vor allem an den unerquicklichen Auftritten der Mannschaft bei den vergangenen Turnieren gelegen haben soll. Mittlerweile steht das Team besser als VW da. Mit 20 freigewordenen Millionen ließe sich gewiss keine Werkschließung verhindern – als Zeichen, dass gespart werden muss, wäre der symbolische Rückzug aber vor wenigen Monaten noch denkbar gewesen.
Die Nationalmannschaft ist niemandem mehr peinlich. In den nun zu Ende gehenden Sommerferien sonnten sich tätowierte, bebierbauchte 50-Jährige an Adria und auf Malle – gewandet in ein pinkfarbiges Trikot. Sind wir nicht alle ein bisschen Julsi? Kann sich natürlich auch schnell wieder ändern. Niederlagen gegen Ungarn sowie die Niederlande, und schnell steht die Fanfrage im Raum, was denn überhaupt diese Länderspielpause nach gerade einmal zwei Bundesligaspielen zu suchen hat, was das überhaupt soll mit dieser Nations League, und überhaupt war ja diese Europameisterschaft mit dem Viertelfinal-Aus so dolle auch nicht.
Eine wacklige Angelegenheit, die da in die Hände von Marc-André ter Stegen gelegt wurde. Der konnte sich immerhin lange genug auf diese Aufgabe vorbereiten. Sein Debüt in der Nationalmannschaft feierte er bereits 2012. Seitdem kam er immerhin 40 Mal zum Einsatz. Meist aber nur, wenn es Manuel Neuer irgendwo zwickte oder der große Meister keine Lust hatte auf ein Kirmes-Turnier, wie es der Confed-Cup in seiner Wahrnehmung war. „Machen wir uns nichts vor: Das ist auch frustrierend“, sagte der 32-Jährige nun vor seinem ersten Spiel als Stammtorwart. Bisher habe es jemanden gegeben, „der es immer wieder geschafft hat, sich da vorzudrängeln“. Jetzt, da die Zeit des Wartens vorbei ist, stellt ter Stegen zufrieden fest: „Aber es hat sich gelohnt.“
Machen wir uns nichts vor: Das ist auch frustrierend
Marc-André ter Stegen, Deutscher Nationaltorwart
Beharrlichkeit zahlt sich aus, und diese Gewissheit ist möglicherweise eine der größten Stärken der neuen Nationalmannschaft. Im Kern befinden sich Spieler wie Andrich, Groß, Niclas Füllkrug, ter Stegen oder auch Jonathan Tah. Spieler, die bewiesen haben, dass sich geduldiges Arbeiten lohnt. Dass es neben großem Talent – gute Güte, waren die WM-Mannschaften 2018 und 2022 talentiert! – eben auch mentale Ausdauer braucht. Ob diese Mannschaft deswegen auch Chancen auf den WM-Titel 2026 hat, ist freilich ungewiss. Die Nations League ist aber das, was Trainer gerne als Gradmesser bezeichnen. Letzter Gewinner des Wettbewerbs war Spanien. Danach stürmte die Mannschaft zum EM-Titel. Nach einem Sieg gegen Deutschland im Viertelfinale. Cucurella. Tränen. Zusammenhalt.
Nur zwei Monate – und doch schon so weit weg.
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