Soll keiner sagen, dass es diesem Bundestrainer nicht an Bereitschaft fehlt, sich selbst zu quälen, den viel zitierten Extra-Meter zu gehen. Am Samstag waren es sogar fast 800 Extra-Kilometer, die Nagelsmann unverhoffterweise machte. Eigentlich war geplant, mit dem Flugzeug von München aus nach Hamburg zu gelangen, wo in der Elbphilharmonie die Auslosung der EM-Gruppen stattfand. Wegen des Wintereinbruchs in Süddeutschland wurde daraus nichts, der Zugverkehr rund um München wurde eingestellt, auch am Flughafen ging nichts mehr. Deswegen setzte sich Nagelsmann, wegen etwas Fieber schon ohnehin nicht in der besten aller Verfassungen, ans Steuer seines Autos und fuhr frühmorgens in Richtung Hansestadt los, acht Stunden später war er trotz Schneetreibens rechtzeitig da. Seinem Chef, Sportdirektor Rudi Völler, gefiel’s: "Julian ist ein junger Kerl, der hat sich ins Auto gesetzt. Er wollte unbedingt dabei sein." Wenn man so will, wurde der Einsatz belohnt: In die deutsche Gruppe A wurden mit Ungarn, Schweiz und zum Start gegen Schottland machbare Gegner zugelost.
Sah auch Nagelsmann selbst so, der nach der Ziehung bei MagentaTV sagte: "Das ist keine Todesgruppe, aber es gibt keine wirklich schlechten Gegner." Vor allem der Start gegen die Schotten sei ein "Brett" wegen der emotionalen Fans von der Insel. Die Ansage von DFB-Präsident Bernd Neuendorf, wonach Deutschland tunlichst nicht nur beim Auftakt der Heim-EM am 14. Juni, sondern auch beim Finale am 14. Juli in Berlin mit von der Partie sein sollte, kam bei Nagelsmann und Völler aber so nicht über die Lippen. Völler warnte vor den Gruppengegnern, die allesamt eine gute Qualifikation gespielt hätten: "Wir sind nicht in der Situation, dass wir irgendwelche Gegner nicht respektieren oder auf die leichte Schulter nehmen. Die Zeiten sind vorbei."
Bundestrainer Nagelsmann kündigt Veränderungen an
Vorbei dürften aber auch die Zeiten sein, in denen die Nationalmannschaft eine Wohlfühlatmosphäre für die meisten Spieler beinhaltet. Nagelsmann gab an, seine Lehren aus den jüngsten Pleiten gegen Österreich und der Türkei gezogen zu haben. Details wolle er nicht verraten, weil eine Auslosung dafür nicht der richtige Rahmen sei. Letztlich werde es "inhaltliche Bereiche", aber auch das Gesamtgefüge betreffen: "Es gibt jetzt keine Radikalkur, dass wir zehn Spieler zu Hause lassen und zehn neue einladen, aber es wird schon etwas veränder werden in der Struktur, weil wir auch eine veränderte Nationalmannschaft haben vom Selbstverständnis, in der Art und Weise, wie wir auftreten."
Aufschluss gab die EM-Auslosung auch hinsichtlich der Gegner, die der DFB für die letzten Testspiele direkt vor Turnierbeginn suchen will. Für die Pause im März bestätigte Völler, was schon länger bekannt war: Getestet wird gegen die Niederlande und Frankreich. Das letzte Zeitfenster soll aber dafür genutzt werden, gegen Teams zu spielen, die ähnlich wie Ungarn und Schottland eine tiefe Verteidigung spielen. Eine Überlegung sei es laut Völler auch, gegen eine britische Mannschaft einen Test zu vereinbaren.
Die DFB-Gegner im Überblick:
- Ungarn Wie unangenehm das Team ist, bekam die DFB-Auswahl bei der jüngsten EM zu spüren. Im letzten Gruppenspiel führte Ungarn kurz vor Schluss, Deutschland wäre ausgeschieden gewesen. In letzter Sekunde gelang Goretzka das 2:2. Danach gab es noch ein 1:1 und eine 0:1-Niederlage in der Nations League. Trainer Marco Rossi, seit 2018 im Amt, hat eine stabile und schwer zu knackende Elf geformt, die in der Qualifikation Gruppensieger wurde. Größter Star ist der Ex-Leipziger Dominik Szoboslai vom FC Liverpool.
- Schottland Unter Trainer Steve Clark (seit 2019) hat sich Schottlands Nationalelf gemausert. In der Qualifikation gelang im März ein 2:0-Sieg gegen Spanien, die Gruppe schloss das Team mit deutlichem Abstand vor Norwegen auf Rang zwei ab. Große Stars sind John McGinn (Aston Villa) und Scott McTominay (Manchester United). Die Statistik spricht für Deutschland: Von den jüngsten elf Spielen gewann die DFB-Elf acht, verlor nur eines.
- Schweiz Die Mannschaft, für die wohl der geringste Scouting-Aufwand nötig ist: Ein Großteil der Spieler war mal in der Bundesliga aktiv oder ist aktuell in Deutschland beschäftigt. Das finale Gruppenspiel am 23. Juni in Frankfurt am Main wird also "ein kleines Derby", wie Nagelsmann sagte. Zugleich ist das Team von Murat Yakin aber die Mannschaft, die das beste Weltranglistenranking der drei DFB-Gegner hat (18.). Kurios: Gegen kein anderes Team spielte Deutschland so oft, aber noch nie trafen die Mannschaften bei einer EM aufeinander. Größter Star und Kapitän ist Granit Xhaka von Bayer Leverkusen. Der 31-Jährige ist zugleich Mieter von DFB-Sportdirektor Rudi Völler.