Nach solchen Abenden tut sich Tina Rupprecht mit dem Einschlafen schwer. Erst allmählich, Stunden nach dem Kampf, weicht das Adrenalin aus ihrem Körper, erzählt die 31-Jährige. Gegen 4 Uhr morgens hätte sie die Augen zugemacht. Eindrücke und Aufregung wollen verarbeitet werden. Wenn zwischen der Gegnerin und ihr die Fäuste fliegen, stellt das den Körper physisch und psychisch vor extreme Herausforderungen. Im Gespräch am Sonntagmittag wirkt die Augsburgerin in keinster Weise angeschlagen. Der Abend, den sie mit ihrem Trainer- und Betreuerteam gemütlich bei einem Essen ausklingen ließ, hat an ihrem muskulösen Körper kaum Spuren hinterlassen. "Mir tut gar nichts weh", erzählt sie lachend. Zudem schwirren immer noch Endorphine im Kopf umher, die alles beschwingter erscheinen lassen.
Bei der Box-Gala in der Berliner Verti Music Hall war alles nach Plan gelaufen. Den Wechsel in die kleinste Gewichtsklasse des Frauenboxens hatte Rupprecht mit dem WM-Titel gekrönt. "Ich bin super happy und sehr zufrieden mit meiner Leistung. Entsprechend klar war der Sieg", so die Boxerin. "Die harte Arbeit hat sich gelohnt, ich und mein Trainer- und Betreuerteam können stolz auf uns sein." Konkurrentin Fabiana Bytyqi hielt den Gürtel des WBC-Verbands seit 2018, war in den vorangegangenen 22 Kämpfen als Siegerin aus dem Ring gestiegen. Nun hat sich Rupprecht den WM-Titel gesichert. Und das äußerst überzeugend. Das Voting der Wertungsrichter dokumentierte die Überlegenheit der Herausforderin: Einmal 98:92 und zweimal 97:93 lautete das Urteil.
Tina Rupprecht lässt ihre Gegnerin Fabiana Bytyqi bluten
Letztlich entwickelte sich das Geschehen im Ring so, wie es Rupprecht erwartet und sich in ihrem Matchplan vermerkt hatte. Die größere Bytyqi wartete ab, wollte dem Druck der Deutschen standhalten und sie mit gezielten Schlägen auskontern. Doch Rupprecht boxte schlau, fand Lücken, vertraute auf ihre flinken Beine und landete dank ihrer aktiven Auslegung wiederholt mit Haken Treffer. Bereits während der vierten Runde hatte die Tschechin mit Nasenbluten zu kämpfen – Rupprechts Schläge hatten sichtbar Spuren hinterlassen.
Im März des vergangenen Jahres hatte die Augsburgerin in ihrem bislang größten Kampf eine bittere Niederlage erlitten. In den USA unterlag sie als WBC-Weltmeisterin der Lokalmatadorin und WBA-Weltmeisterin Seniesa Estrada. In einem der besten Kämpfe in der Geschichte des Frauenboxens musste sich Rupprecht mehr dem Urteil der Ringrichter denn den Schlägen ihrer Kontrahentin beugen. Dass dieses einstimmig ausfiel, erklärten Experten vorwiegend mit dem Heimbonus Estradas. Rupprecht zog Schlüsse und suchte eine neue Herausforderung, die sie in der Atomgewichtsklasse (bis 46,2 Kilo) fand. Bisher hatte Rupprecht im Minimumgewicht (bis 47,6 Kilo) geboxt. Die Umstellung fiel ihr sprichwörtlich leicht, da sie in ihrer vorherigen Klasse zu den Leichtgewichten gezählt hatte.
Hinter der Profiboxerin lagen anstrengende Wochen, seit September hatte sie sich noch intensiver als sonst vorbereitet. Unter anderem begab sie sich zu "Athletik-Guru" Sepp Maurer in ein Trainingslager im Bayerischen Wald. Wie zielführend sie an ihren konditionellen Grundlagen gearbeitet hatte, zeigten die Bilder vom Wiegen. Zuletzt war sie mit ihrem Trainer Alexander Haan in Ungarn zum Sparring gewesen. Rupprechts Konzentration galt gänzlich dem Sport, alles andere blendete sie aus.
WM-Titelträgerin Tina Rupprecht zu Rückkampf: "Ich bin da ganz offen"
Nun, da der Druck abgefallen ist, wird sie sich erst einmal ein paar freie Tage gönnen und jegliches Training meiden. "Ich brauche dringend mal wieder etwas anderes als Boxen", sagt sie und lacht. Sie kennt sich aber so gut, dass spätestens nach ein, zwei Wochen wieder Bewegung angesagt sein wird. Zudem sind weitere Kämpfe nur eine Frage der Zeit.
Angebote werden eintrudeln, einmal im Jahr muss sie als WM-Titelträgerin eine Pflichtverteidigung antreten. Rupprecht rechnet allerdings damit, dass ihr nächstes Duell eine freiwillige Verteidigung sein werde. "Ich bin da ganz offen", meint sie. Fabiana Bytyqi hat bereits angekündigt, einen Rückkampf anzustreben, um sich den Gürtel zurückzuholen. Möglich sind aber zugleich Auseinandersetzungen mit Faustkämpferinnen aus Südamerika oder Japan, wo die Besten ihres Fachs beheimatet sind.
Fürs Erste hat Rupprecht der Alltag wieder. Zwei Tage Ruhe sind ihr vergönnt, ehe die Realschullehrerin wieder Schülerinnen und Schüler im Sportunterricht anweist. Nach der Niederlage im März gegen Estrada und dem Verlust des WM-Titels hatte die Schulband die Sportlerin bei ihrer Rückkehr mit der Titelmelodie der "Rocky"-Filmreihe gefeiert. Ob sie ein ähnlicher Empfang erwartet, davon lässt sich Rupprecht überraschen.