„Deutschland ist auf ausländische Fachkräfte angewiesen“, heißt es plakativ auf einem Papier der Bundesregierung. Das liest sich in der Realität anders, wie aktuell der Fall der 22-jährigen Madina aus Afghanistan zeigt. Die junge Frau, die aus Angst vor den Taliban ihren Nachnamen nicht nennen will, war mit ihrer Familie vor 14 Monaten über Ungarn nach Deutschland gekommen. In Diedorf-Hausen kamen die Afghanen unter. Vor einigen Monaten erhielt Madina einen Ausbildungsvertrag zur Servicekraft im Gasthof Adler in Ziemetshausen im Landkreis Günzburg.
Die Wirtsleute Katrin und Jan Hiller freuten sich über die junge Frau, die sie als „höflich und nett" beschreiben. Ihre Sprachkenntnisse seien gut. Sie sei zwar noch keine Fachkraft. Aber sie sei motiviert. "Sie will. Und wir suchen händeringend gutes Personal“, sagt Jan Hiller, der Madina auch ein Zimmer gestellt hätte. In der Branche weiß jeder: Restaurants und Hotels leiden seit der Pandemie unter verstärktem Fachkräftemangel.
In Schwaben werden Arbeitskräfte dringend gesucht
Auch in anderen Branchen werden junge, motivierte Arbeitskräfte dringend gesucht. Schätzungen gehen von einem Bedarf von 143.000 Menschen im Jahr 2035 in Schwaben aus. Die schwäbische Wirtschaft benötige die Zuwanderung von qualifizierten Arbeitskräften, um wettbewerbsfähig bleiben zu können, sagt Wolfgang Haschner. Er leitet den Geschäftsbereich Berufliche Bildung der IHK Schwaben.
In Afghanistan wollte Madina Fluglotsin werden. Doch dann übernahmen die Taliban die Macht. Madina musste ihre Ausbildung abbrechen. Weil ihr Vater für die Nato gearbeitet hatte, war plötzlich die ganze Familie gefährdet. Sie flüchtete. Über die Balkan-Route landete Madina mit ihren Eltern und drei kleineren Geschwistern in Ungarn. Dort stellten sie und die Familie einen Asylantrag, teilt die Regierung von Schwaben auf Nachfrage mit. Danach reisten sie weiter. In Deutschland angekommen wurden Madina und ihre Familie ein Fall für das Dublin-Verfahren. Es besagt: Das europäische Land, das ein Flüchtling zuerst betreten hat, ist für den Asylantrag zuständig. Wegen der sogenannten Drittstaatenregelung muss die Familie zurück nach Ungarn.
Eckpunkte des Afghanistan-Einsatzes
11. September 2001 Die Anschläge von Al-Kaida lösen den US-geführten Militäreinsatz in Afghanistan aus. Al-Kaida-Chef Osama bin Laden hielt sich unter dem Schutz der Taliban in Afghanistan auf.
22. Dezember 2001 Der Bundestag stimmt für eine Beteiligung deutscher Streitkräfte. Im Januar darauf rücken die ersten Soldaten aus.
4. September 2009 Ein Bundeswehr-Oberst befiehlt den Luftangriff auf zwei von Taliban gekaperte Tanklaster. Zahlreiche Zivilisten sterben.
15. April 2010 Vier deutsche Soldaten sterben auf Erkundungsfahrt bei einem Angriff der Taliban.
29. Februar 2020 Die USA vereinbaren mit den Taliban den Abzug der Nato-Streitkräfte. Die Taliban versichern, dass von Afghanistan keine Terrorgefahr mehr ausgeht.
1. Mai 2021 Der Abzug internationaler Truppen beginnt.
8. August 2021 Die Taliban nehmen mehrere Provinzhauptstädte ein. Nahezu jeden Tag bringen sie das Land mehr unter ihre Kontrolle.
15. August 2021 Die Taliban nehmen auch die Hauptstadt Kabul ein.
Anfang dieser Woche sollten Madina und ihre Familie nach Budapest gebracht werden. Morgens kam die Polizei zur Unterkunft in Diedorf-Hausen, um die sechsköpfige Familie abzuholen. Am Münchner Flughafen stellten die Beamten offenbar fest, dass der Familienvater fehlte. Wie sich herausstellte, hatte er einen Spaziergang gemacht, als die Polizei vor der Türe stand. So berichtete es Josefine Steiger, die sich als pensionierte Leiterin des Bereichs Bildung bei der IHK Schwaben um das Schicksal von Flüchtlingen kümmert. Es ist ihr eine Herzensangelegenheit, dass die jungen Menschen integriert werden und einen Job finden. Josefine Steiger kämpfte mit den Tränen, als sie berichtete, was sich zugetragen hatte. „Der Vater von Madina kam morgens nach Hause zurück und wusste nicht, wo seine Familie abgeblieben war. Eine Tragödie.“
Die Mutter von Madina und die drei Geschwister wurden im Laufe des Tages wieder zurück ins Augsburger Land gebracht. Die 22-jährige Madina blieb in Begleitung von zwei Beamten zunächst am Flughafen in München. In letzter Minute griff das Verwaltungsgericht München ein. Ein Anwalt hatte erfolgreich einen Eilantrag gestellt. Als Begründung wurden laut Josefine Steiger „systemische Mängel“ im Asylsystem in Ungarn angeführt. Schon vor Jahren hatte das Verwaltungsgericht Berlin in einem Eilverfahren festgestellt, dass Abschiebungen nach Ungarn unzulässig sind, weil Alleinstehenden dort „willkürliche und unverhältnismäßige Haft“ drohen könnte. Die Begründung wird in der Rechtsprechung auch immer wieder anders gesehen.
Der Gastronom aus Ziemetshausen versteht die Vorgänge nicht
Das zuständige Landesamt für Asyl und Rückführung hält sich mit Informationen bedeckt. Zu Einzelfällen gebe es keine Auskunft. Nur so viel: „Die Rücküberstellung der jungen Frau wurde kurzfristig storniert“, teilte eine Sprecherin mit. In der Realität sah die „Stornierung“ so aus: Die junge Frau wurde im Polizeiwagen vom Münchner Flughafen zum Hauptbahnhof gebracht und dort sich selbst überlassen.
Gastronom Jan Hiller ist schockiert: „Das ist alles unwirklich“, sagt er. Fachkräfte würden an allen Ecken und Enden fehlen. Gleichzeitig werde im Ausland für viel Geld nach geeigneten Arbeitnehmern gesucht. „Das ist alles so verrückt.“ Eine ähnliche Erkenntnis hatten vor Jahren Unternehmen im Raum Kaufbeuren, nachdem sie von einem plötzlichen Arbeitsverbot ihrer Mitarbeiter betroffen waren. Sie schlossen sich zur Unternehmer-Initiative Bayern zusammen. Sie fordert "Sicherheit durch ein verlässliches Bleiberecht für ausländische Mitarbeiter". Eine feste Arbeit oder eine Ausbildung müssten schwerer gewichtet werden, sagt Monika Hermann-Sanou von der Initiative.
Wie es jetzt bei Madina und ihrer Familie weitergeht? "Das ist offen", sagt Josefine Steiger. Sie holt tief Luft. Dann sagt sie: „Es muss doch eine Lösung geben.“ Oder nicht? Laut Auskunft der Zentralen Ausländerbehörde Schwaben besitze die 22-Jährige keinen Aufenthaltstitel. Weil auch kein Duldungsgrund bestehe, fehle die rechtliche Grundlage für eine Ausbildungserlaubnis.