Acht Millionen Menschen in Deutschland haben eine Suchterkrankung. Aber was bedeutet Sucht und Abhängigkeit, etwa von Alkohol, Drogen, Medikamenten? Und was kann man tun, um herauszukommen? Antworten von Martin Voss, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, und Alexander Stoll, Chefarzt in der Entwöhnungstherapie.
Was ist eine Suchterkrankung?
In der medizinischen Klassifikationsliste ICD-10, die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegebenen wird, gibt es sechs Kriterien. Eine Abhängigkeitserkrankung liegt vor, wenn mindestens drei davon festgestellt werden:
Was können Signale sein, an denen Angehörige oder Betroffene selbst erkennen können, dass ein riskanter Konsum in eine Sucht übergeht?
«Eine Sucht hat man nicht von heute auf morgen», sagt Martin Voss, der Oberarzt im Suchtmedizinischen Zentrum der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie im St. Hedwig-Krankenhaus Berlin ist. Sucht entwickelt sich allmählich und hat Vorstufen. Ein Warnsignal und Symptom für eine Konsumstörung ist der zunehmende Konsum selbst, so Alexander Stoll, Chefarzt der Vivantes Entwöhnungstherapie Hartmut-Spittler-Fachklinik am Berliner Auguste-Viktoria-Klinikum: «Es wird mehr konsumiert und nie weniger.»
So dreht sich die Suchtspirale, dass in der Folge zunehmend Nebenwirkungen des Konsums ersichtlich werden. Also: Kontrollverlust, Toleranzentwicklung oder Vernachlässigung von Beziehungen und anderer Aktivitäten zugunsten des Konsums.
Voss zufolge sind das die entscheidenden Kategorien für eine Abhängigkeitserkrankung. Die Menge selbst spielt für die Diagnose letztlich nicht so eine entscheidende Rolle.
Warum wird man überhaupt süchtig?
Voss vergleicht es mit einer feindlichen Übernahme, die im Gehirn stattfindet: Die Substanz sorgt dafür, dass sich bestimmte Hirnareale massiv verändern. Im Fokus steht vor allem das sogenannte Belohnungssystem. «Das ist das, was auf jegliche Reize, die wir als positiv erleben, anspricht, etwa gutes Essen oder schöne Dinge, die einem Spaß machen oder Sexualität.»
Suchtmittel stimulierten direkt oder indirekt das Belohnungssystem, «und zwar in einem Ausmaß, wie wir es durch unser Verhalten oder sonstige Stimulationen gar nicht bekommen.» So führe etwa Kokain direkt zu einer Ausschüttung des Botenstoffs Dopamin - in einem Ausmaß, wie es nicht mal ein Orgasmus schafft.
«Wenn man das mehrmals gemacht hat, wird es schwer, darauf zu verzichten», sagt Martin Voss. «Es stellt sich immer mehr eine Gewöhnung ein und schließlich auch eine Abhängigkeit.» Führt man die Substanz nicht zu, treten also Entzugssymptome auf. Und das können durchaus auch unspezifische Symptome sein. Vielleicht spielt der Kreislauf verrückt. Oder es kommt zu Nervosität, Unruhe, depressiven Symptomen.
Menschen, die Partydrogen konsumieren, hätten etwa einen starken Hangover, der weggeht, wenn man wieder konsumiert. «Das ist dann die Falle, in die man tappt», so Voss. Irgendwann sind es dann automatische Prozesse, die man kaum noch beeinflussen kann.»
Das ist dann die sogenannte feindliche Übernahme: «Dann geht es irgendwann nur noch darum, Entzugssymptome zu verhindern, zu funktionieren», sagt Martin Voss. «Menschen konsumieren und gehen zur Arbeit, weil sie ohne Konsum gar nicht mehr in der Lage wären, arbeiten zu gehen.»
Sucht hat viele Gesichter, heißt es oft. «Wenn man sich so eine Station wie unsere mit 24 Betten für Entgiftung von Alkohol und anderen Substanzen anschaut, wer hier so ist, das ist ein kompletter Querschnitt durch die Gesellschaft», sagt Voss. «Alle Alters-, alle sozialen Schichten sind hier betroffen.»
Was passiert beim Entzug in einer Klinik?
Viele Kliniken bieten einen sogenannten qualifizierten Entzug an. Dabei geht es zum einen um die Entgiftung und darum, Entzugserscheinungen zu lindern, auch durch Medikamente. Denn: «Der Entzug von Alkohol, Opiaten und Benzodiazepinen ist körperlich anstrengend und kann mit Komplikationen wie einem epileptischen Anfall einhergehen», sagt Alexander Stoll. «Deswegen sollten diese Entzüge unbedingt ärztlich begleitet werden.»
Meist werden auch Entspannungsverfahren sowie ärztlich und psychologisch geleitete Gruppentherapien angeboten, in denen Wissen über die Erkrankung und wie man mit ihr umgeht, vermittelt wird. Außerdem: Einzelgespräche mit Ärzten und Psychologen oder auch Sozialarbeitern.
Zum anderen werden aber auch die Weichen für die Nachbehandlung gestellt, also die Langzeit- oder Entwöhnungstherapie in spezialisierten Reha-Kliniken, «die nur Patienten aufnehmen, die bereits entgiftet haben», sagt Voss. «Das sind bis zu sechs Monate Therapie, in denen man lernt, wieder ohne die Substanz zu leben.»
Gut zu wissen: Ambulant bieten verschiedene Einrichtungen, vor allem Suchtberatungsstellen, Entwöhnungstherapien an.
Viele Einrichtungen sind überlastet. Was kann man sonst akut unternehmen?
Für viele Suchterkrankungen gibt es Selbsthilfegruppen. Sie sind eine niedrigschwellige Möglichkeit. «Falls die professionelle Hilfe Engpässe in den Kapazitäten aufweist und Wartezeiten entstehen, empfehle ich ganz klar den kostenlosen Besuch von Selbsthilfegruppen in der jeweiligen Region», sagt Stoll. «Selbst, wenn man noch konsumiert und nicht clean ist, erlauben die meisten Gruppen den Zutritt. Von solch einer starken Gemeinschaft kann jede betroffene Person sofort profitieren.»
Die Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) bietet auf ihrer Internetseite eine Suche für örtlichen und regionalen Anlaufstellen an: https://www.dhs.de/service/suchthilfeverzeichnis.
Informationen zu verschiedenen Süchten und wie man sie bewältigen kann, gibt es auf der Seite des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG): https://gesund.bund.de/themen/sucht-bewaeltigen.
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