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Zeitgeschichte: Am Anfang fehlte es an allem

Zeitgeschichte

Am Anfang fehlte es an allem

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    Vor 25 Jahren: Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) in seinem neuen Büro im Berliner Reichstagsgebäude.
    Vor 25 Jahren: Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) in seinem neuen Büro im Berliner Reichstagsgebäude. Foto: picture-alliance / dpa

    Von diesem Sommer der Superlative träumen ein paar Spediteure noch heute. 38 Kilometer Bücher, elf Kilometer Akten, 120.000 Möbelstücke, 3.400 Kunstwerke, 1.300 Computer, 1.000 Pflanzen und dazu das wertvolle Porzellan der Parlamentarischen Gesellschaft: Als Bundestag und Bundesregierung vor 25 Jahren von Bonn nach Berlin umziehen, ist das nicht nur eine politische Zäsur für das wiedervereinte Deutschland, sondern auch eine logistische Herausforderung. 24 Güterzüge der Bahn sind nötig, um alleine das Parlament zu verlegen, dazu die Umzüge der einzelnen Ministerien, der Parteien und Verbände, von Botschaften, Fernsehsendern und Zeitungsredaktionen. Mehr als 17.000 Menschen spült der Berlin-Umzug innerhalb weniger Monate an die Spree.

    Christoph Steegmans ist einer von ihnen - allerdings muss der Pressereferent der FDP seine Siebensachen in Bonn damals alleine packen., weil die Partei nach der verlorenen Bundestagswahl 1998 knapp bei Kasse ist, „Wir haben weite Teile des Umzugs selbst gemacht“, erzählt er.. Kaum angekommen in Berlin sei er schon mit einem Kollegen in die nächste Filiale eines schwedischen Möbelhauses gefahren, um erst einmal Regale für die Pressestelle zu kaufen. Anders als Ministerien, Abgeordnete und Korrespondentenbüros allerdings muss die FDP nicht vorübergehend in ein Provisorium ziehen, weil die meisten Neubauten in Berlin noch nicht fertig sind,. Die Liberalen haben bereits 1993 eine alte Immobilie in Berlin-Mitte erworben und saniert.

    Es fehlt an Häusern, Wohnungen und Kindergartenplätzen

    Am 1. August 1999 nimmt die Bundestagsverwaltung ihre Arbeit in Berlin auf, ab dem 6. September tagt dann auch das Parlament im ehemaligen Reichstagsgebäude.. „Eine einzigartige Symbiose von Geschichte und Moderne“, jubelt der Korrespondent der Washington Post., sei Berlin mit dem Umzug und dem neuen Regierungsviertel eingegangen. Die neue Kuppel auf dem Reichstag ist ihr weithin sichtbares Symbol. Wirklich vorbereitet aber ist die Stadt auf ihre neuen Mitbürger nicht. Es fehlt an Wohnungen und Kindergartenplätzen, die beiden Hauptstadtflughäfen haben nicht einmal eine direkte Verbindung in die USA im Angebot - und für die lebensfrohen, leutseligen Rheinländer in der Bundestagsverwaltung und den Ministerien ist die nassforsche Art ihrer neuen Mitbürger, die berühmte Berliner Schnauze, mindestens gewöhnungsbedürftig, wenn nicht gar eine Zumutung. Der später von Bürgermeister Klaus Wowereit geprägte Slogan „arm, aber sexy“ klingt für sie auch nicht wie eine Verheißung an, sondern eher wie eine Bedrohung. Einige pendeln heute noch zwischen Berlin und Bonn.

    Christoph Steegmans hat zuvor schon ein paar Semester in Berlin studiert und keine Eingewöhnungsschwierigkeiten. Nach Stationen als stellvertretender Regierungssprecher und Sprecher der damaligen Ministerin Kristina Schröder (CDU) ist er heute Leiter einer Unterabteilung im Familienministerium. An die turbulenten ersten Monate in der neuen Hauptstadt erinnert er sich noch gut. „Aus dem Bonner Raumschiff wurde ein Berliner Flugzeugträger,“ sagt er. Größer, hektischer, medial umkämpfter auch: So beruhigend das betulich-biedere Bonn mit seinem Generalanzeiger als einziger Tageszeitung auf die deutsche Politik gewirkt haben mag, so aufgeregt geht es plötzlich in Berlin zu, was nicht zuletzt an der veränderten Medienlandschaft liegt. Alleine fünf örtliche Zeitungen, etliche Radiosender, dazu das Erstarken der digitalen Medien: „Es war schlagartig alles anders“, sagt Steegmans. „Auch die Diplomatie wurde sichtbarer.“ Residierten die meisten Botschaften in Bonn noch abseits der öffentlichen Wahrnehmung in Bad Godesberg, so vertreten Amerikaner, Briten, Franzosen, Ungarn oder Russen ihre Interessen nun direkt am Brandenburger Tor oder zumindest in dessen Sichtweite.

    Noch im Umzugsjahr fliegt die Spendenaffäre der CDU auf

    Gegenüber der russischen Botschaft Unter den Linden bezieht damals auch das neue Berliner Büro unserer Zeitung ein Provisorium - in einem tristen, schon in die Jahre gekommenen DDR-Zweckbau, der ein paar Jahre später abgerissen wird. Das erste Thema: Der Vorschlag des SPD-Fraktionsvorsitzenden Peter Struck, das Steuersystem radikal zu vereinfachen und nur noch drei Steuersätze zu erheben, nämlich 15, 25 und 35 Prozent. Der Aufschrei in Strucks Partei ist gewaltig, klingt das Konzept den meisten Genossen doch zu sehr nach FDP. Das politische Berlin aber hat in den ersten Augusttagen 1999 seine ersten Schlagzeilen - wenn auch nicht mit denen zu vergleichen, die wenige Monate später folgen sollen: Die CDU-Spendenaffäre kostet Helmut Kohl den Ehrenvorsitz, Wolfgang Schäuble den Parteivorsitz und legt letztlich das Fundament für Angela Merkels Kanzlerschaft.

    Ein Stück Zeitgeschichte: Der Plenarsaal des alten Bundestages in Bonn.
    Ein Stück Zeitgeschichte: Der Plenarsaal des alten Bundestages in Bonn. Foto: picture alliance / dpa

    Von den 736 Bundestagsabgeordneten heute haben etwa zwei Dutzend die Bonner Zeit noch selbst als Parlamentarier erlebt, darunter Bundeskanzler Olaf Scholz, Agrarminister Cem Özdemir, seine grüne Parteifreundin Claudia Roth, Wolfgang Kubicki von der FDP, Peter Ramsauer von der CSU, der Linke Gregor Gysi und CDU-Chef Friedrich Merz. Die Entscheidung, nach Berlin zu ziehen, war 1991 allerdings umkämpft. Wolfgang Schäuble, der Fraktionschef der Union, soll mit seiner Rede letztlich den Ausschlag dafür gegeben haben, als er unter anderem sagte: „Das Symbol für Einheit und Freiheit, für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit für das ganze Deutschland war wie keine andere Stadt immer Berlin.“ Wolfgang Clement dagegen, damals Chef der Staatskanzlei in Nordrhein-Westfalen und später Superminister für Wirtschaft und Arbeit unter Gerhard Schröder, schäumte: „Wer Berlin zur neuen Hauptstadt macht, schafft geistig ein neues Preußen.“

    Bonn erhielt mehr als eine Milliarde Euro an Entschädigung

    Bonn - das stand im Beamtenspott für „Bundesstadt ohne nennenswertes Nachtleben.“ Motto: halb so groß wie Chicago, aber doppelt so tot. „Die Politik strahlte keine Grandezza aus“, sagt Steegmans, „sondern die geschäftsmäßige Nüchternheit von Aktenordnern.“ Heute dagegen ist Bonn auch dank der Ausgleichszahlungen des Bundes von weit über einer Milliarde Euro eine lebendige, internationale Stadt mit mehr als 25 Einrichtungen der Vereinten Nationen und den Zentralen der Dax-Konzerne Telekom und Deutsche Post. Auch sechs der 14 Bundesministerien haben hier nach wie vor ihren ersten Dienstsitz. Alle anderen betreiben noch immer eine Filiale in Bonn. Geschätzte Zusatzkosten der doppelten Regierungsführung mit jährlich etwa 11.000 Dienstreisen zwischen beiden Städten: Rund 20 Millionen Euro im Jahr.

    Die rheinische Bescheidenheit ist mit dem Regierungsumzug in Bonn geblieben. In Berlin ist das Tempo höher, der Ton lauter, das Gedränge größer und die Inszenierung von Politik spektakulärer. Und anders als in der alten Hauptstadt, sagt Steegmans, „kommen in Berlin unweigerlich auch viele Touristen mit dem Regierungsviertel in Berührung.“ Es ist die neue Mitte des neuen Berlin - aber irgendwie ist das neue Berlin dabei doch das alte geblieben, eher arm als sexy. Am Reichstagsufer zwischen ARD-Hauptstadtstudio und Bundespresseamt rollen sich gerade zwei Obdachlose am Eingang zu einem Regierungsgebäude in ihre Schlafsäcke.

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