Eineinhalb Stunden, nachdem in Alaska als letztem Bundesstaat die Wahllokale geschlossen hatten, erklärte sich Donald Trump im Weißen Haus zum Sieger der Wahl 2020 über seinen Herausforderer Joe Biden. Da war es in Deutschland halb Neun am Mittwochmorgen. Doch bekanntlich kam es vor vier Jahren anders. Der Auszählungsmarathon von Briefwahlstimmen, den Trump als amtierender Präsident mit wütenden Protesten begleitete, dauerte noch vier Tage, bis die amerikanische Nachrichtenagentur AP am Samstag um 17.24 Uhr deutscher Zeit Joe Biden zum klaren Wahlsieger erklärte. Ganze 89 Stunden nach Schließung der ersten Wahllokale. So verrückt ging es seit über hundert Jahren nicht mehr zu in Amerikas ungewöhnlichem Wahlsystem.
„Es ist auch dieses Mal keineswegs sicher, dass wir am Mittwochmorgen den Sieger der Präsidentschaftswahl kennen“, sagt der USA-Experte und Kölner Politikwissenschaftsprofesser Thomas Jäger. Es könnte Wochen dauern, besonders wenn die eine oder andere Seite Nachzählungen fordere. „Dann wissen wir es vielleicht erst im Dezember – oder spätestens am 6. Januar, wenn das Ergebnis im Kongress zertifiziert werden muss.“ Und sollte das nicht geschehen, könnten wie zuletzt im Jahr 1824 die Abgeordneten des Repräsentantenhauses den Präsidenten unabhängig vom Votum der Wahlmänner zum Sieger küren. Damals wurde der eigentlich unterlegene Kandidat John Quincy Adams zum sechsten US-Präsidenten gekürt.
Wahlmänner prägen das politische System
Noch heute steckt das Wahlsystem der Vereinigten Staaten voller Unwägbarkeiten, die alle modernen Umbrüche überdauert haben. So wählen die Amerikaner immer noch an einem Dienstag, weil zur alten Postkutschenzeit der christliche Sonntag nicht infrage kam und am Montag Zeit für eine weite Anreise zum Wahllokal zur Verfügung stehen sollte. Vielfach größer wirkt sich der Einfluss auf die heutige Politik durch Amerikas Festhalten am „Wahlmänner-System“ aus: Jeder Bundesstaat entsendet in das Gremium seine zwei Senatoren und je nach Bevölkerungsstärke weitere ein bis 54 Abgeordnete. Das führt dazu, dass in den USA am Ende nur ein Dutzend der 50 Bundesstaaten über den Ausgang der Präsidentschaftswahl entscheidet, weil dort die Mehrheiten zwischen Demokraten und Republikanern hin und her schwanken. Was macht diese sogenannten Swing States so besonders, dass es dort immer sehr knapp zugeht, während in den meisten anderen Staaten ein klarer Trend erkennbar ist?
„In den Swing States wirken sich die demografischen Verschiebungen in den USA besonders deutlich aus“, sagt USA-Experte Jäger. „Die weiße Mehrheitsgesellschaft nimmt ab, während die sogenannten Minderheiten zunehmen. Das führt dazu, dass sich insgesamt die politische Orientierung in diesen Staaten verändert.“
Swing States, in denen das Rennen bis zuletzt offen ist
Viele Swing States waren einst fest in demokratischer Hand, bis Ronald Reagan sie auf die Seite der Republikaner geholt hatte. „Damals nannte man die Seitenwechsler ,Reagan-Demokraten‘“, erklärt Jäger. „Das waren vor allem Arbeiter, die früher demokratisch gewählt haben, und aus Enttäuschung über den Kurs der Partei zu den Republikanern überliefen.“ Seitdem wechseln sechs, sieben Staaten je nach Wahl auch heute noch zwischen Republikanern und Demokraten. „Ein Beispiel ist Georgia, wo bei der letzten Wahl nur rund 12.000 Stimmen den Ausschlag gegeben haben, wer die entscheidenden Stimmen der Wahlleute bekommt.“ Inzwischen zählt auch der sehr lange von den Demokraten beherrschte einstige Industriegürtel im Norden der USA aus Wisconsin, Michigan und Pennsylvania zu den umkämpften Swing States, die im harten Wahlkampf auch „Battleground-States“ – das Schlachtfeld – genannt werden.
„In den Swing States im Norden spielt das Stadt-Land-Gefälle eine große Rolle“, sagt Jäger. Die Städte wählten tendenziell demokratisch, die ländlichen Gebiete republikanisch. „Stadt-Land-Unterschiede und das Verhältnis von städtischen zu ländlichen Gebieten spielen eine entscheidende Rolle, wenn es knapp wird“, betont der Kölner Professor. „Dazu kommt der wirtschaftliche Strukturwandel, der zu einer Deindustrialisierung geführt hat und viele Menschen dazu brachte, ihre politische Wahlentscheidung zu überdenken.“
Trump holte die weißen Arbeiter zu den Republikanern zurück
Dies hätten die Demokraten beim ersten Wahlkampf von Donald Trump gegen Hillary Clinton unterschätzt, aber ebenso zuvor auch die Republikaner. „Nachdem Barack Obama zweimal die Präsidentschaftswahlen erfolgreich für die Demokraten gewonnen hatte, gab es innerhalb der republikanischen Partei Bestrebungen, stärker auf afroamerikanische und hispanische Wähler zuzugehen“, berichtet Jäger. Der Gedanke war, diese wachsenden Bevölkerungsgruppen stärker zu umwerben, um wieder Mehrheiten in den Swing States zu bekommen und zu sichern. „Dann kam Donald Trump und hat diese Strategie komplett umgeworfen“, sagt Jäger. Trump fokussierte sich auf die weiße Arbeiterschaft, die in vielen der umkämpften Staaten vorher meist demokratisch gewählt hatte. „So entschied er die Wahl 2016 klar für sich in den Swing States, obwohl Hillary Clinton bundesweit mehr Stimmen bekam.“ Clinton bekam amerikaweit 48 Prozent der Stimmen, Trump nur 46. Doch Trump holte mit dem Sieg der Swings States im Norden 304 Wahlleute, Clinton nur 227.
„Im jetzigen Wahlkampf zählt die weiße Arbeiterschaft erneut zu Trumps Kernzielgruppe, aber man sieht, dass er auch bei afroamerikanischen und hispanischen Arbeitern Zuspruch findet“, sagt Jäger. „Barack Obama sieht in Trumps Methode eine Art ,Machismo‘, der besonders Männer anspricht. Demnach sieht es Trump möglicherweise als Vorteil, dass er es wie bei Hillary Clinton auch mit Kamala Harris mit einer Frau als Gegenkandidatin zu tun hat.“ Trumps Hauptzielgruppe seien weiße Männer, insbesondere evangelikale Christen. „Deswegen tut Trump sich so sehr schwer, beim Thema Schwangerschaftsabbruch eine Position einzunehmen, die für die meisten Frauen überhaupt akzeptabel ist“, sagt Jäger. Trump habe darauf gesetzt, dass das von ihm mit streng Konservativen besetzte Oberste Gericht das Thema Abtreibung von der politischen Tagesordnung abräume. Allerdings entfachte das Urteil des Supreme Courts neuen Streit, das bundesweit einheitliche Recht auf Schwangerschaftsabbruch zu kippen und die Gesetze den Bundesstaaten zu überlassen. „Drei Viertel der Frauen in den Vereinigten Staaten wollen ein bundesweit einheitliches Abtreibungsrecht“, sagt Jäger. „Kamala Harris hat das zu einem sehr großen Thema gemacht, und das könnte für Donald Trump zum großen Problem werden.“
Einige Tausend Stimmen könnten am Ende entscheidend sein
Warum halten die Amerikaner an ihrem Wahlleutesystem auch heute noch fest? „Das amerikanische Wahlsystem geht auf die Gründungsväter der Verfassung zurück, die skeptisch gegenüber einem ungefilterten Volkswillen waren“, sagt USA-Experte Jäger. „Sie wollten eine Sicherung für die Demokratie einbauen, damit nicht eine Mehrheit aus politischer Verblendung einen Tyrannen wählt.“ Heute stärkt das System vor allem die US-Staaten mit einer kleinen Bevölkerungszahl, die jede Änderung verhindern würden.
2016 hat Jäger als einer der wenigen Fachleute Trumps Sieg vorhergesagt. Und dieses Mal? „Die jetzige Präsidentschaftswahl ist auf jeden Fall genauso offen wie 2020, vielleicht sogar offener“, sagt er. „Es hängt alles von einigen Tausend Stimmen in den Swing States ab.“
Die von Trump bezahlten Umfragen sagen Trump als Gewinner voraus.... soweit logisch. Es sieht aber eher so aus als würden gerade Frauen und Latinos ihre Stimmen jetzt Kamala geben. Er hat sich die letzten Tage einfach zu viel geleistet (z.B. im Madison-Square-Garden) Und wenn man so auf die bekannten Zahlen zu den Briefwählern schaut dann kann es durchaus sein dass Trump am Wahltag eine unangenehme Überraschung in Form einer Niederlage ereilt....
Das amerikanische Wahlsystem mag zwar alt sein, sich vielleicht bewährt haben, aber gerecht ist etwas anderes. In 48 Bundesstaaten gilt ja das "The Winner Takes it all"-Prinzip, heißt: alle Wahlmänner eines Staates wählen den, der im ungünstigsten Fall eine Stimme mehr hat, zum Präsidenten. Der Rest fällt unter den Tisch. Nur 2 Staaten, Nebraska und Maine, verteilen m.W. die Stimmen der Wahlmänner proportional zum Wahlergebnis. So kann man u.U. mit Millionen mehr Stimmen trotzdem die Wahl zum Präsidenten verlieren. Das halte ich für höchst ungerecht - egal wen es trifft. Das ist für mich der Hauptgrund für due Unberechenbarkeit.
Auch in Nebraska und Maine wird dies nur marginal anders abgebildet - NE ist in 3 Wahlbezirke geteilt die jeweils separat als Winner takes it all fungieren. Besser als die anderen, aber auch nicht wirklich super.
Völlig egal - es geht um das Gerechtigkeitsprinzip. Maine, z.B.: 4 Wahlmänner => theoretisch da z.B. ein 2:2 möglich, in 48 anderen Staaten nur ein 4:0 (egal für wen). Ich finde es grundsätzlich ungerecht, wenn Stimmen unter den Tisch fallen - auch in Deutschland (eine 2%- oder 3%-Hürde ... aber das ist hier nicht das Thema).
Da gebe ich Ihnen Recht, es ist schon absurd dass ein bis auf Bush 2004 kein Republikaner mehr die Mehrheit der Wähler hinter sich vereinigen konnte. Auch schwierig wenn ich als Republikaner in CA weiß, dass meine Stimme quasi wertlos ist.
Man kann nur hoffen, dass Trump gewinnt und Bewegung in diese verlogene Kriegstreiber-Politik kommt.
Dass Herr Trumo ein Neo Faschist ist, scheint Sie, wenig überraschend, nicht zu stören.
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