So sieht einer aus, der sich politisch unangreifbar fühlt. Wladimir Putin tritt kurz vor Mitternacht, Stunden nachdem die Wahllokale in Russland geschlossen wurden, ans Rednerpult im Moskauer Gostiny Dwor und spricht plötzlich den Namen aus, den er über Jahre bewusst nicht in den Mund genommen hatte, den Namen seines größten politischen Widersachers: Alexej Nawalny.
Nun, da dieser tot ist, erlaubt sich Putin einen Kommentar. Es sei „immer ein trauriges Ereignis“, wenn einer aus dem Leben gehe. Aber so sei das Leben eben, meint der 71-Jährige, und fährt in gewohntem Zynismus fort: „Wir hatten auch andere Fälle, bei denen Menschen in Gefängnissen aus dem Leben schieden. Hat es das etwa in den USA nicht gegeben? Hat es! Und nicht nur einmal.“
Selbst in diesem Moment, kurz nachdem klar geworden ist, dass Putin bei seiner inszenierten Präsidentenwahl mehr als 87 Prozent aller Wählerstimmen bekommt – „historisch nie da gewesene Ergebnisse“, wird die Wahlkommissionsleiterin Ella Pamfilowa diese am Morgen danach nennen – arbeitet er sich an den USA ab. Denn genau darum geht es dem manipulativen Diktator in seiner immer hemmungsloser und hysterischer werdenden Hetze: seinen geradezu zum Epos erhobenen Kampf gegen den Westen. Russland sei sich einig darin, das zeigen für Putin die Wahlergebnisse, dass es zusammenstehe, um seine Einzigartigkeit und Einmaligkeit zu bewahren. „Wir alle, wir, die gewählt haben, sind ein Team. Wir sind Gefährten. Und Gefährten, so war das im Alten Russland, sind Krieger“, sagt er noch vorher in seinem Wahlstab. „Russland, Russland“, rufen seine „Krieger“, für sie ist Putin Russland, etwas dazwischen gibt es nicht. Keinen Zweifel, kein Infragestellen, nur das Schlucken dessen, was das Regime als das einzig Wahre verkauft: Die rohe Gewalt ist das zentrale Motiv der russischen Politik.
Putin droht der Nato mit Drittem Weltkrieg
Die kommenden Jahre werden weitere Zerstörungen, weitere Verheerungen zutage fördern. Das Land hat politisch, wirtschaftlich und auch moralisch „alles für den Krieg“ umgebaut. Ohne den Krieg, so macht Putin stets deutlich, werde es Russland nicht mehr geben. Ohne den Krieg gibt es vor allem ihn selbst nicht mehr. Der Krieg ist sein Überleben. So erklärte er am Sonntagabend, ein umfassender Konflikt mit der Nato sei nicht auszuschließen, und in diesem Fall wäre die Welt nur einen Schritt von einem Dritten Weltkrieg entfernt.
Die Wahl, so manipuliert, unfrei und unfair sie auch abgelaufen sein mag, gibt dem alt-neuen Präsidenten noch mindestens sechs weitere Jahre, sich als Oberkrieger zu fühlen, im Kampf in erster Linie gegen die Ukraine, vor allem aber gegen den Westen, den der Kriegsherrscher als dekadent betrachtet. Die 87 Prozent erlauben ihm eine weitere Radikalisierung, wie nach außen so auch nach innen. Er fühlt sich legitimiert und unterstützt von einem Volk, bei dem kaum einer für jemand anderen gestimmt zu haben scheint als für ihn: den allmächtigen Kriegsherrn.
Die Gesellschaft ist für Putin Verfügungsmasse
Der Kreml verkauft erfolgreich die Mär von einer „konsolidierten Gesellschaft“ und lässt bewusst beiseite, wie gespalten diese ist. Die Rechte seiner Untertanen sind für Putin reine Verfügungsmasse, einsetzbar je nach Lage der Dinge. Am Sonntag stellten sich dennoch in vielen russischen Städten Tausende Menschen in Schlangen vor Wahllokalen, um den Mächtigen zu zeigen: „Wir sind da, und wir sind unzufrieden.“ Für den Kreml sind diese Menschen „Verräter“ und „Extremisten“.
Die Aktion habe „keinen wirklichen Effekt“ gezeigt, lässt Putin mitteilen. Für diese Unzufriedenen dürfte es in den kommenden Jahren noch unangenehmer werden, denn der Staat fordert ganz klar „die Einheit des Volkes“ ein: ein Land, ein Präsident, eine Meinung. Es gibt kaum kritische Medien im Land, es gibt keine organisierte Opposition. Bereits an den drei Wahltagen gab es mehr als 70 Festnahmen wegen Störung des Wahlverfahrens. Es dürften mehr dazukommen.
Russland hat eine ausgefeilte Gesichtserkennung. Selbst auf dem Friedhof, wo Menschen täglich Blumen für Nawalny ablegen, hängen mehrere Kameras. „Ich war so beschwingt gestern, als ich vor meinem Wahllokal so viele Menschen sah, die meine Werte teilen, ich fühlte mich endlich nicht mehr allein. Heute aber bin ich wieder trostlos, denke doch wieder ans Auswandern. Was für eine Zukunft blüht hier meiner kleinen Tochter? Wir haben nun erst recht keine Zukunft“, sagt eine, die „unglaublich zittert vor der Repressionsmaschine unseres Landes“, wie sie sich beschreibt.
„Recht kann nicht aus Rechtlosigkeit entstehen“
Dass fast 90 Prozent für einen Kandidaten nicht gerade ein Anzeichen eines gesunden politischen Systems sind – in manchen russischen Regionen bekam Putin 99 Prozent –, kümmert den russischen Staat nicht. Für ihn ist der – erzwungene und inszenierte – Wahltriumph eine Legitimation zur weiteren Unterdrückung von Massen, im Geiste einer Vergangenheit, die Russland nie verarbeitet hat.
„Recht kann nicht aus Rechtlosigkeit entstehen, und international anerkannte Legitimität kann nicht aus Zwang, Unterdrückung und Betrug entstehen“, erklärte Litauens Außenminister Gabrielius Landsbergis am Montag in Vilnius. „Deshalb betrachten wir dieses gefälschte und vorgetäuschte Verfahren nicht als Wahl und nennen es auch nicht so, da es sich leider eher um eine tragische Farce handelt.“ Auch die Außenministerien in Estland und Lettland verurteilten die „sogenannten Wahlen in Russland“ als weder frei noch fair.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach Putin „jede Legitimität“ ab. „Diese Wahlfälschung hat keine Legitimität und kann keine haben“, sagte Selenskyj in seiner täglichen Videoansprache. „Diese Figur (Putin) muss auf der Anklagebank in Den Haag landen – dafür müssen wir sorgen, jeder auf der Welt, der das Leben und den Anstand schätzt.“ Wegen des Vorwurfs der Kriegsverbrechen in der Ukraine gibt es einen Haftbefehl des Weltstrafgerichts in Den Haag gegen Putin.