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Verteidigung: Die Nato lebt - und sendet eine Botschaft an Russland

Verteidigung

Die Nato lebt - und sendet eine Botschaft an Russland

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    Fallschirmjäger der Bundeswehr und Soldaten verbündeter Nato-Partner trainierten im Mai bei der größten Luftlandeoperation seit dem Zweiten Weltkrieg.
    Fallschirmjäger der Bundeswehr und Soldaten verbündeter Nato-Partner trainierten im Mai bei der größten Luftlandeoperation seit dem Zweiten Weltkrieg. Foto: Kay Nietfeld, dpa

    Wenn es um seine ersten Erinnerungen an die Nato geht, denkt Boris Pistorius überraschend schnell an Weihnachten vor 43 Jahren. Wegen der Russen hätte er fast die Feiertage bei der Familie verpasst. Es war Anfang Dezember 1981, eigentlich sollte die Dienstzeit des jungen Soldaten an Silvester enden. Da wurde dem Wehrpflichtigen eröffnet, dass er Heiligabend vielleicht doch in der Kaserne in Achim bei Bremen verbringen muss statt unter dem Weihnachtsbaum in Osnabrück. In Polen stellte die Gewerkschaft Solidarność das Machtmonopol der Kommunisten infrage, die Regierung verhängte das Kriegsrecht – und im Westen befürchteten viele, die Sowjets könnten in Warschau einfallen, um die Massenbewegung von Arbeitern, Bauern und Angestellten niederzuschlagen. Es war die Zeit, als Pistorius erstmals die transatlantische Allianz bewusst wahrnehmen sollte.

    Pistorius: „Aus einer Position der Stärke heraus“ im Frieden mit Russland leben

    Bei seiner Luftverteidigungseinheit in Niedersachsen herrschte genauso Alarm wie innerhalb der Nato. Das Bündnis habe damals eine große Rolle gespielt, sagt der heutige Bundesverteidigungsminister unserer Redaktion. „Da war ich schon mal schwer beeindruckt von dem Konstrukt.“ Sein Gedanke von damals leitet den SPD-Politiker bis heute im Umgang mit Russland: „Wenn man mit einem solchen Gegenüber in Frieden leben und sich organisiert annähern will, kann man das nur aus einer Position der Stärke heraus.“ Mehr als vier Jahrzehnte sind seitdem vergangen, aber die neue Realität klingt wie die alte von 1981: Die Gefahr für den Westen geht von Moskaus Expansionsdrang aus. An vielen Stellen ist die Situation wie aus den Archiven des Kalten Kriegs kopiert.

    Deutschlands Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) bei einer Sitzung im im Nato-Hauptquartier.
    Deutschlands Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) bei einer Sitzung im im Nato-Hauptquartier. Foto: Virginia Mayo, AP/dpa

    Der SPD-Politiker erzählt die Wehrdienst-Anekdote am Rande eines Treffens mit seinen Amtskollegen im Hauptquartier des Bündnisses in Brüssel. Sie kümmern sich um die letzten Vorbereitungen zum großen Jubiläumsgipfel in Washington. Ab Dienstag feiern die 32 Mitgliedstaaten an ihrem Gründungsort mit allem Pomp und Gloria den 75. Geburtstag der westlichen Verteidigungsallianz.

    Der Festakt ist in gewisser Weise die Zelebrierung der wiederbelebten Nato, nachdem der französische Präsident Emmanuel Macron bei ihr noch vor wenigen Jahren den „Hirntod“ diagnostiziert hatte. Die Frage, wozu das Verteidigungsbündnis nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und damit dem Ende des Systemkonflikts noch gut sein soll, stellt sich heute nicht mehr. Russlands Präsident Wladimir Putin hat sie mit seinem Überfall auf die Ukraine beantwortet. „Seit der Annexion der Krim 2014 geht es wieder ums Überleben“, sagt Claudia Major, Sicherheitsexpertin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. „Die Nato ist wieder die Lebensversicherung für Staaten wie Estland.“

    Radikales Umdenken in der Nato seit dem 24. Februar 2022

    Während sich die transatlantische Allianz viele Jahre in der Sinnkrise verfing und die Selbstzweifel nach problematischen Auslandseinsätzen wie in Afghanistan nur noch wuchsen, sorgte Russlands Besetzung der Krim und spätestens die Vollinvasion am 24. Februar 2022 für ein radikales Umdenken – eine Zeitenwende in jeder Hinsicht. „Es gab eine Rückbesinnung auf die kollektive Bündnisverteidigung“, sagt Major. Fast alle Partner geben inzwischen mehr Geld für ihr Militär aus, mit Schweden und Finnland haben sich zwei neutrale Staaten angeschlossen, an der Ostflanke zog die Nato so viele Streitkräfte zusammen wie seit Jahrzehnten nicht mehr.

    Krieg zu üben kann erstaunlich banal sein, wie ein Dienstag Mitte Mai demonstriert. „Stellt beim Halten der Waffe sicher, dass ihr nicht das Innere des Helikopters zerkratzt“, ruft der spanische Kommandeur den 22 deutschen Fallschirmjägern auf Englisch zu. „Und lasst genügend Abstand zwischen euch.“ Die Bundeswehrsoldaten marschieren in zwei Reihen in die geöffnete Heckklappe des Chinook CH-47. Dicht gedrängt setzen sie sich auf ihre Plätze, wer angeschnallt ist, streckt wie bei einem Schulklassenausflug den Daumen nach oben. Dann weist ein spanischer Ausbilder die Truppe in die Eigenarten des Militärhubschraubers ein. Wo ist der Notausgang? Was bedeutet es, wenn ein langes Klingeln ertönt? Die Deutschen sollen erfahren, dass bei den Spaniern die Anschnallgurte anders funktionieren und sich auch die Bestimmungen unterscheiden, wie sie ihr Sturmgewehr G36 zu tragen haben.

    Bei der Großübung Steadfast Defender war das Ziel die Befreiung eines Flugplatzes gegen feindliche Kräfte.
    Bei der Großübung Steadfast Defender war das Ziel die Befreiung eines Flugplatzes gegen feindliche Kräfte. Foto: Kay Nietfeld, dpa

    Im Helikopter steht die Luft, es ist stickig, heiß, drückend. Draußen senkt sich über den Getreidefeldern und Wiesen die Abendsonne. Die Nato-Partner simulieren an der Ostflanke den Ernstfall. Im rumänischen Siebenbürgen findet an diesem Frühlingstag jene Symbiose statt, die Politiker und Diplomaten im Brüsseler Hauptquartier der Allianz unter dem sperrigen Begriff Interoperabilität beschwören. Es geht um die Abläufe, die Rüstung, die Planung. Im konkreten Fall will die Allianz erreichen, dass alle – ob Spanier, Rumänen, Niederländer, Deutsche oder Amerikaner – in jeder Maschine mitfliegen können. Man arbeitet mehr denn je auf die Harmonisierung hin.

    Jetzt ist es deutlicher, wofür man das alles macht.

    Jelte Groen, Nato-Brigadegeneral

    Bei der Übung im Mai befreien die Natotruppen unter deutscher Führung einen von Feindkräften eingenommenen Flugplatz. Dafür springen insgesamt rund 1500 Fallschirmjäger in der Nähe der rumänischen Kleinstadt Cincu ab. Die größte Luftlandeübung der Nato-Geschichte ist mit voller Absicht beeindruckend. „Jetzt ist es deutlicher, wofür man das alles macht“, sagt der niederländische Brigadegeneral Jelte Groen. Eine Demonstration der Stärke und ein Signal der Abschreckung – die Übung ist Teil des viermonatigen Militärmanövers Steadfast Defender 2024. Im Einsatz: mehr als 90.000 Soldaten, rund 50 Kriegsschiffe, 80 Flugzeuge und 1100 Gefechtsfahrzeuge. Es sei „eine klare Botschaft“ an Russland und jeden anderen Aggressor, betont der deutsche Generalmajor Dirk Faust. „Wir zeigen, dass wir schnell auf jede Krise und jede Aggression oder auch jeden Angriff gegen Nato-Territorium und die Bündnispartner reagieren können.“

    Nato-Übungen vom Polarkreis bis in die rumänischen Karpaten

    Die einzelnen Übungen verteilten sich von Norwegen und Finnland am Polarkreis über Polen und das Baltikum in der Mitte bis in die rumänischen Karpaten im Südosten. Ähnlich große Manöver hatte die Nato zuletzt Ende der 80er-Jahre veranstaltet, als die Sowjetunion und der Warschauer Pakt noch existierten. „Stronger together“, „gemeinsam stärker“, steht auf den Schmuckabzeichen, die zahlreiche Soldaten während der Übung in Rumänien an ihre Uniform geheftet haben.

    Pistorius sitzt im Konferenzraum des deutschen Flügels des imposanten Hauptquartiers im Nordosten Brüssels. Nur unweit entfernt liegt in einer Vitrine der Nordatlantikvertrag vom 4. April 1949. Die gemeinsame Sicherheitsgarantie beruht auf Artikel 5, dem Eckpfeiler der Allianz, der besagt, dass die Attacke auf ein Nato-Mitglied ein Angriff auf alle ist. Ja, die Nato stehe so stark wie nie da, sagt Pistorius. Einerseits. „Andererseits muss sie aufpassen, dass sie zusammenbleibt angesichts der unterschiedlichen Interessenlagen, die sich verändern können durch nationale Wahlen“, warnt der SPD-Politiker. Die Gefahren kommen von außen – und von innen.

    Das Bündnis, das wissen sie in Brüssel, ist nur stark, so lange es den Musketier-Schwur glaubhaft vermitteln kann. „Wenn sich die 32 Alliierten öffentlich streiten, ist die Abschreckungsbotschaft dagegen geschwächt“, sagt Expertin Major. Stichwort Nuklearmacht Frankreich, wo die Nato-skeptischen Rechtspopulisten bald in der Regierung sitzen könnten. Stichwort Ungarn, das als russlandfreundlicher Quertreiber Hilfen für die Ukraine ablehnt und offen mit Putin flirtet.

    Aber vor allem kreisen die Sorgen in der Nato um die USA. Ihre Truppen, ihre Schiffe, Drohnen und Raketen und vorneweg ihre Atomwaffen garantieren bis heute Europas Sicherheit. Während die Vereinigten Staaten jahrzehntelang treue, verlässliche Verbündete darstellten, bröckelt das Interesse Washingtons an Europa. Und mit Horror blicken die Alliierten auf November. Was würde passieren, wenn der Nato-Schreck Donald abermals ins Amt gewählt wird? Schon jetzt ist der republikanische Präsidentschaftskandidat der Elefant im Raum jedes Bündnistreffens. Er hält die Europäer für Schmarotzer und drohte unlängst damit, Mitglieder nicht vor Russland zu schützen, wenn sie ihre Bündnisverpflichtungen nicht erfüllen. Man dürfe nicht vergessen, so sagte er, dass die Allianz wichtiger für Europa sei als für die USA, denn es liege „ein schöner, großer, herrlicher Ozean“ zwischen den Vereinigten Staaten und „einigen Problemen“ in Europa. Dementsprechend versuchen die Partner, zumindest die Unterstützung für die Ukraine „Trump-fest“ zu machen und sie von der politischen Wetterlage in Washington abzukoppeln. Trotzdem, die Lücken, die Trump möglicherweise aufreißen würde, „können wir nicht füllen“, sagt Major, ob es um die Ukraine oder um Europas Verteidigung geht. Gleichwohl hält sie es für „unwahrscheinlich, dass sich die Amerikaner komplett zurückziehen“.

    Kann Biden der Nato eine Hilfe sein?

    Der erste Nato-Generalsekretär, der Brite Lord Ismay, formulierte die Kernaufgaben einst so: Die Allianz solle „die Amerikaner drinnen, die Russen draußen und die Deutschen unten halten“. Letzteres stimmt nicht mehr, im Gegenteil, die Verantwortung der Bundesrepublik hat zugenommen – politisch, wirtschaftlich und militärisch. Die ersten beiden Beschreibungen treffen dagegen mehr denn je zu. „Die USA sind die Antreiber, die Kompromissmaschine, der politische Familienvater, der den Laden zusammenhält“, sagt Politologin Major. Aber selbst wenn die Demokraten gewinnen – was ist mit einem US-Präsidenten, der nun 75 Jahre Allianz feiert, aber offenbar kaum 75 Minuten stehen kann? Die Verbündeten treffen beim Gipfel nächste Woche auf einen Joe Biden, der nach seinem desaströsen TV-Auftritt mit Trump um sein Amt und seine Würde ringt. „Die Autorität der USA bestimmt sich durch mehr als die Person des Präsidenten“, versucht ein hochrangiger Nato-Offizieller zu versichern.

    In Washington wird der Geburtstag begangen, auch wenn es eigentlich kein Grund zum Feiern ist, dass die Allianz weiterhin gebraucht wird, um Frieden und Freiheit auf dem Kontinent zu sichern. Oder wie es ein Diplomat kürzlich eingestand: „Wenn die Nato Konjunktur hat, heißt das, dass es der Welt schlecht geht.“

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