Für einen kurzen Moment wirkt es, als habe eine Zeitmaschine die Kongresshalle am Flughafen von Atlanta um 14 Jahre zurückgebeamt. Dynamisch und scheinbar anstrengungslos stürmt ein Mann mit aufgekrempelten Hemdsärmeln die Bühne hoch. „Yes we can!“, skandiert die Menge. „Yes we can!“, antwortet der Redner lachend. Die Stimmung ist großartig. „I love you!“, ruft jemand ganz vorne. „Ja, ich mag dich auch“, erwidert Barack Obama, „aber ich will vor allem, dass du wählen gehst!“
Es ist Wahlkampf, mal wieder, wie 2008, als Bobby Thanepohn von Haustür zu Haustür zog und Flugblätter für den damaligen Senator verteilte, der kurz darauf als erster Afroamerikaner ins Weiße Haus einziehen sollte. Thanepohn ist wie mehr als 5000 andere Fans mit seiner Frau Jennifer und Sohn Preston zu dem kurzfristig angesetzten Auftritt des Ex-Präsidenten gekommen. Stolz hat er das beigefarbene T-Shirt mit Obamas Konterfei von der damaligen Kampagne angezogen. „Das hat einen Ehrenplatz in meinem Kleiderschrank.“
Zwischenwahlen: Ex-Präsident Obama macht Wahlkampf
Doch nicht nur das Hemdchen spannt inzwischen etwas auf der Brust des hochgewachsenen Mannes. Auch sonst hat sich einiges verändert, seit Obama vor sechs Jahren aus der aktiven Politik ausschied. „Man kann wohl sagen, dass das Land durch harte Zeiten gegangen ist“, sagt der Ex-Präsident selber. Die Pandemie, die Polarisierung, die fiebrige Aufregung der Onlinemedien. Obama streift das alles nur, denn eigentlich geht es um die Zwischenwahlen in zehn Tagen. Da sieht es, wenn man den Meinungsforschern glauben will, gar nicht gut aus für die Demokraten. Das Repräsentantenhaus dürften sie ohnehin verlieren. Doch seit ein paar Tagen wankt auch die hauchdünne Mehrheit im Senat immer heftiger.
Obamas Blitz-Trip am Ende des Wahlkampfes, der ihn aus dem beschaulichen Studierzimmer im noblen Washingtoner Stadtteil Kalorama innerhalb weniger Tage nach Atlanta, Detroit, Milwaukee und Las Vegas führt, ist daher so etwas wie ein Rettungseinsatz in letzter Minute. Er sorgt in den USA mächtig für Schlagzeilen, nicht nur weil der 61-Jährige mit seinem Charisma und seiner Coolness immer noch viele Anhänger hat. Vor allem fällt auf, dass der pensionierte Präsident in den umkämpften Swing-States auftritt, während sich der Amtsinhaber seit einem Monat nicht im Wahlkampf gezeigt hat. Das ist kein Zufall: Mit seinen schlechten Beliebtheitswerten würde Joe Biden für die Kandidaten möglicherweise eher zur Belastung werden. Deshalb bleibt er im Hintergrund. Der populäre Obama hingegen, so hoffen die Parteistrategen, könnte den Abwärtstrend drehen oder zumindest abbremsen. Eine Herkulesaufgabe.
Ex-Präsident Obama ist in den USA noch immer sehr beliebt
In Atlanta ist zumindest der Andrang groß. Schon am Vortag können die Veranstalter keine Anmeldungen mehr annehmen. Die ersten Besucher erscheinen am nächsten Morgen gegen 11 Uhr – acht Stunden vor dem offiziellen Start des Programms. Fred Nutter und seine Frau Dorothee stehen ganz vorne in der langen Schlange. „Er ist so ernsthaft und energiegeladen und er hat viel für uns getan“, schwärmt der Afroamerikaner: „Denken Sie nur an Obamacare!“ Und Biden? Nein, über den will der freundliche Herr mit dem grauen Bart nichts Schlechtes sagen: „Er musste erst einmal in den Job finden. Aber nun gewinnt er an Boden“, antwortet er diplomatisch.
Drinnen im Saal spricht Obama ein paar Stunden später offen die Themen an, die den Demokraten derzeit im Wahlkampf große Probleme bereiten. Da ist zum einen die Rekordinflation, die die Republikaner der Regierung anlasten. „Die Benzinpreise gehen rauf, die Lebensmittel werden teurer. Das schmerzt“, sagt der Ex-Präsident: „Aber fragt Euch: Wer wird etwas dagegen machen?“ Die Republikaner wollten die Sozialleistungen kürzen und die Steuern für Reiche senken. Das werde Normalbürgern kaum helfen. Und dann die steigende Verbrechensrate: „Das ist ein ernstes Problem“. Aber laxere Waffengesetze seien wohl kaum die Antwort.
Obama sieht die Demokratie im Land gefährdet
Obama ist immer noch ein begnadeter Redner. Er wechselt geschmeidig zwischen aktuellen politischen Kommentaren und grundsätzlicheren Anmerkungen, zwischen eher professoralen Ausführungen und selbstironischen Auflockerungen, bei denen er gerne seine beim Publikum noch beliebtere Frau Michelle einführt. „Ich muss zugeben, dass es schwerer im Wahlkampf geworden ist“, sagt er einmal, „und zwar nicht nur weil ich älter, grauer und etwas ungelenkiger geworden bin, obwohl Michelle sagt, dass ich immer noch süß bin.“
Das Publikum lacht, aber eigentlich leitet der Redner mit diesem Satz eine sehr ernste Betrachtung über den Zustand der Gesellschaft ein, in der man nicht mehr zivilisiert anderer Meinung sein könne. Seine eigene Partei, die Demokraten, mache immer wieder Fehler. Aber die Republikaner würden sich nicht mehr an Regeln halten, ihnen gehe es nur darum, die Demokraten niederzumachen und Donald Trump zu gefallen. „Bei dieser Wahl steht auch die Demokratie auf dem Stimmzettel“, mahnt Obama plötzlich sehr ernst. „Wenn die Demokratie schwindet, hat das Konsequenzen und Menschen werden verletzt“, warnt er und verweist auf zahlreiche Länder, wo Meinungsfreiheit und Menschenrechte nicht geachtet, Wahlen gefälscht würden und die Korruption blühe.
In Georgia kämpfen die Demokraten um ihren Sitz im Senat
Es fällt schwer, bei dieser Passage nicht an Parallelen mit Obamas Nachfolger Donald Trump zu denken. Doch noch einmal führt der Redner seine Frau Michelle an, die manchmal etwas pessimistisch sei: „Aber ich glaube: alles wird gut“, schließt er versöhnlich, um gleich eine Einschränkung nachzuschieben: „Es hängt von uns ab. Wir müssen dafür kämpfen!“
Eine halbe Stunde nur hat Obama geredet und doch ein großes Panorama für die Wahlen in Georgia aufgezogen, wo die demokratische Gouverneurskandidatin Stacey Abrams fast acht Punkte hinter dem republikanischen Amtsinhaber liegt und Raphael Warnock, der demokratische Inhaber des umkämpftesten Senatssitzes, gerade seinen Vorsprung gegenüber dem trumpistischen Herausforderer Herschel Walker verloren hat.
Ob ein einzelner Auftritt daran etwas ändert? „Ich glaube nicht, dass jemand nach der Rede seine Meinung ändern wird“, sagt Bobby Thanepohn, der Mann mit dem verwaschenen T-Shirt: „Aber darum geht es hier auch gar nicht. Wir müssen unsere Leute mobilisieren, damit sie wirklich ihre Stimme abgeben.“ Am 8. November wird sich zeigen, ob das gelungen ist.