Die Aussicht aus dem Büro von Mark Dannels ist bilderbuchreif. Über den Parkplatz vor dem Zweckbau am Ortsrand von Sierra Vista blickt man auf die Steppe und die eindrucksvollen Huachuca Mountains unter einem strahlend blauen Himmel. Doch der Mann mit dem goldenen Stern auf dem schwarzen Hemd hat keinen Sinn für das idyllische Wüstenpanorama. „Was da draußen passiert“, sagt er gleich zur Begrüßung, „ist eine Tragödie.“
Dannels ist Sheriff von Cochise County, einem dünn besiedelten Landstrich mit Wildwest-Anmutung in der äußersten unteren Ecke des Bundesstaats Arizona. Zur nächsten ordentlichen Stadt im Norden, Tucson, sind es zwei Autostunden. Nach Süden geht es nur zu der über mehr als 100 Kilometer mit einem stählernen Zaun gesicherten Grenze mit Mexiko. Schon der Name des Polizeigebäudes ist Programm. „Oletski Border Operations Center“, quasi Operation Grenze, steht an der Tür neben einer großen Plakette, die zwei Beamte ehrt, die bei Einsätzen gegen Menschenschmuggler verletzt wurden.
„So schlimm war die Lage selten“, sagt der Sheriff an der US-Grenze
Dannels hat nicht viel Zeit. Er muss zum Innenminister. Auch sonst ist der stramme Republikaner viel gefragt. Im Nebenjob leitet er den Grenzsicherheits-Ausschuss der National Sheriffs‘ Association. Im August hat er gemeinsam mit seinem Parteifreund Donald Trump den Grenzzaun besucht. Im September saß dessen Gegenkandidatin Kamala Harris in seinem Büro. „Ich mache das hier seit vier Jahrzehnten“, erklärt er. So schlimm sei die Lage selten gewesen.
Die Situation an der Grenze ist eines der größten Aufregerthemen im derzeitigen Präsidentschaftswahlkampf. Mehr als sieben Millionen Menschen sind seit Amtsantritt der Biden-Regierung irregulär in die USA zugewandert. Eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung zeigt sich in Umfragen unzufrieden mit der Politik der Demokraten. Dannels ist einer ihrer Wortführer. „Hier sterben Menschen - sei es aus Erschöpfung in der Hitze, durch die Hand der Drogenkartelle oder durch Vergiftung mit dem eingeschmuggelten Fentanyl. Das ist furchtbar“, erregt er sich: „Das Weiße Haus hat die Sheriffs im Stich gelassen. Das ist frustrierend.“
Ein flüchtiger Blick auf die Zahlen scheint den Eindruck zu bestätigen: 2020, im letzten Jahr der Trump-Regierung, kamen rund 400.000 Migranten ohne Papiere über die Grenze. In den ersten drei Jahren der Biden-Zeit waren es jeweils rund zwei Millionen. Doch die Werte sind erklärungsbedürftig: So sind die Grenzübertritte während der Regierungszeit von Trump zuletzt nur durch die Covid-Restriktionen deutlich zurückgegangen, die eine pauschale Abweisung von Asylsuchenden aus Gründen des nationalen Gesundheitsschutzes erlaubten.
Mit der Aufhebung der Regelung durch die Biden-Regierung schossen die Zahlen dann nach oben - bis der Präsident in diesem Juni die Notbremse zog und das Asylrecht durch die Einführung einer Obergrenze bis auf Weiteres massiv einschränkte. Dadurch ist die monatliche Zuwanderung auf zuletzt 54.000 Frauen und Männer gesunken - den niedrigsten Wert seit August 2020. Das beruhigt Dannels nicht. Viel zu spät und halbherzig sei die Kehrtwende erfolgt, wendet der Hardliner ein: „Unter Trump hatte die Sicherheit an der Grenze Priorität. Davon kann nicht mehr die Rede sein.“
Geflüchtete in den USA setzen sich lebensbedrohlichen Bedingungen aus
Grundsätzlich unterscheiden Praktiker zwei Gruppen von Zuwanderern: Die einen schlagen sich bei oft lebensbedrohlich hohen Temperaturen durch die steppenähnliche Landschaft über die Grenze durch und wollen auf der US-Seite möglichst bald von Grenzbeamten aufgegriffen werden, um ihr Asylbegehren zu äußern. Anschließend dürfen sie bis zu ihrem Gerichtsverfahren im Land bleiben. Das kann Jahre dauern, was freilich unter den Vorgängerregierungen nicht anders war. Meist reisen sie zu Freunden oder Verwandten in allen Teilen der USA weiter und werden von der Wirtschaft als billige Arbeitskräfte geschätzt.
Das Hauptaugenmerk von Sheriff Dannels liegt auf einer zweiten Gruppe - den sogenannten „Getaways“, die organisiert illegal ins Land kommen und Kontakt mit den Grenzbeamten vermeiden wollen. Auf der amerikanischen Seite werden sie von Schleusern erwartet, in Autos gesetzt und auf der Flucht vor der Polizei mit wahnwitziger Geschwindigkeit gen Norden gefahren, wobei es schon tödliche Unfälle gab. Viele der „Getaways“ wählen diesen riskanten Weg, weil sie bereits einmal ausgewiesen wurden. Auf diese Weise kämen unkontrolliert aber auch viele Menschen „aus zweifelhaften Ländern“ und Droggenschmuggler ins Land, warnt Dannels: „Das besorgt mich wirklich.“
Aus dieser komplexen Gemengelage hat Trump im Wahlkampf eine ebenso demagogische wie apokalyptische Kampagne geformt. Pauschal diffamiert er alle Migranten als „Verbrecher und Vergewaltiger“, obwohl wissenschaftliche Untersuchungen keine Belege für eine höhere Kriminalitätsrate liefern. Trotz derzeit sinkender Zahlen zeichnet er das Horrorgemälde einer „Masseninvasion“, die „unsere Löhne unter Druck setzt, das Schulsystem zerstört, unseren Lebensstandard vernichtet und Kriminalität, Drogen, Leid und Tod ins Land gebracht“ habe. „Mord liegt in deren Genen“, behauptet er und hetzt: „Sie vergiften das Blut unseres Landes.“
Trumps rechte Basis kocht bei solchen Ausfällen. Doch an der Grenze sind viele Menschen befremdet über die Instrumentalisierung der schwierigen Lage. „Das ist total übertrieben“, sagt Donald Huish. Der Bürgermeister der Grenzstadt Douglas hat frische Blumen auf dem Schreibtisch und ein freundliches Lächeln im Gesicht. Von seinem Rathaus sind es nur wenige Schritte bis zu der bereits vom früheren Präsidenten George W. Bush errichteten Mauer. Auch Huish ist Republikaner. Aber die rassistische Rhetorik des Ex-Präsidenten lehnt er ab: „Ich weiß nicht, warum Trump das macht. Das enttäuscht mich.“
Im 20. Jahrhundert wurden in Douglas Kupfererze aus der Region geschmolzen. Heute wirkt der Ort mit 16.000 Einwohnern verschlafen. Allein der Grenzübergang und der Handel mit Mexiko sorgen für Jobs. Viele Menschen haben Familienangehörige in Mexiko und fahren regelmäßig über die Grenze. Private Initiativen unterstützen die ankommenden Migranten und suchen nach Vermissten. Kreuze an Straßenrändern erinnern an das Schicksal von jenen, die auf der Flucht in der sengenden Hitze verstorben sind.
Überfälle von kriminellen Banden gibt es in Douglas nicht. „Der Ort ist sicher“, sagt Huish. Der 65-Jährige hat keine Bedenken, wenn seine Enkel mit dem Fahrrad auf der Straße fahren. Trotzdem gibt es massive Probleme: Über den offiziellen Grenzübergang werden nämlich immer wieder Drogen ins Land gebracht. Im Januar wurde ein 19-Jähriger bei dem Versuch erwischt, unter der Ladefläche seines Pickup-Trucks rund 500.000 Fentanyl-Pillen einzuschmuggeln. Der Mann war kein Migrant, sondern US-Bürger. Künftig sollen die Kontrollen noch effizienter werden: Mit 275 Millionen Dollar aus Bidens Infrastrukturpaket wird ein neuer Fahrzeug-Übergang gebaut, der Wartezeiten verkürzen soll und mit hochmodernem Gerät ausgerüstet wird.
Migranten an der Grenze zu Mexiko wurden auf offener Straße abgesetzt
Für diese Mittel aus Washington ist der Bürgermeister „sehr, sehr dankbar.“ Doch bei den Problemen der irregulären Einwanderung fühlt er sich im Stich gelassen. Die Grenzpolizei setzt die aufgegriffenen Migranten nach Feststellung der Personalien nämlich regelmäßig einfach auf den Straßen von Douglas ab. Öffentliche Busse von hier Richtung Tucson oder Phoenix gibt es keine, Übernachtungsmöglichkeiten auch nicht. Als die Zahlen der Zufluchtsuchenden nach der Aufhebung der Corona-Restriktionen in die Höhe schoss, wurde der kleine Ort regelrecht überrannt. „Es ist das gute Recht jeder Regierung, ihre Politik zu ändern“, sagt Huish, „aber dann muss sie sich auch um die Konsequenzen kümmern.“
Stattdessen habe die Biden-Regierung die Probleme der Unterbringung und Versorgung einfach bei seiner kleinen Kommune abgeladen. „Ich habe unzählige Male in Washington nachgefragt: Was ist der Plan? Wollt ihr Zeltstädte bauen? Ich habe nie eine Antwort bekommen.“ Im Gegenteil: Als er pragmatisch ein leerstehendes Gebäude der Nationalgarde mit Duschen und einer Küche als Übernachtungsstätte habe umwidmen wollen, hätten die Streitkräfte Miete und die Übernahme der Personalkosten verlangt. „Ich habe gesagt: Das ist doch euer Problem. Versteht Ihr kein Englisch?“ berichtet Huish. Für einen Moment wird der besonnene Mann emotional: „Das ist unglaublich frustrierend.“
Unausgesprochen trifft die Kritik auch Kamala Harris, die in ihrer Rolle der Vizepräsidentin als „Grenz-Zarin“ für die unliebsame Thematik zuständig war, jedoch nach allgemeiner Einschätzung kein übermäßiges Engagement zeigte. Das hat sich mit ihrem Aufstieg zur Präsidentschaftskandidatin geändert. Als Harris Ende September in neuer Funktion zum ersten Mal in drei Jahren die Grenze besuchte und nach Douglas kam, ließ Huish die Vergangenheit ruhen: „Wir haben das Thema nicht angesprochen.“ Stattdessen hörte sich der Kommunalpolitiker lieber an, was die Demokratin für die Zukunft plant.
Unter dem Druck der öffentlichen Meinung hat Harris ihre Position zur Migration deutlich verschärft. „Die USA sind ein souveränes Land. Wir haben die Pflicht, Regeln für unsere Grenzen festzulegen und diese durchzusetzen“, sagte sie in Douglas. Künftig solle Asyl nur noch an den offiziellen Grenzübergängen beantragt werden können. Wer über die Mauer klettere oder durch eine Lücke ins Land komme und aufgegriffen werde, soll für fünf Jahre gesperrt werden. Außerdem propagiert Harris das vom Kongress verhinderte „Border Bill“, das 1500 zusätzliche Stellen beim Grenzschutz vorsieht, und macht Trump für dessen bisherige Blockade verantwortlich.
„Die Vorschläge entsprechen in vielen Punkten dem, was ich für notwenig halte“, sagt Huish. Sein Gespräch mit Harris sei „sehr produktiv“ gewesen. Trotzdem ist er skeptisch. „In Washington gibt es wenig Ehrgeiz, das Problem zu lösen. Beide Parteien wollen das Thema lieber politisch ausschlachten“, glaubt er. Kaum hatte der Republikaner mit Harris geredet, wurde er von Parteifreunden in E-Mails als vermeintlicher Verräter beschimpft, obwohl er ein paar Wochen zuvor auch Trump getroffen hatte.
Erwartet er nach der Wahl bei einem Sieg entweder von Harris oder von Trump an der Grenze eine echte Verbesserung? Der Bürgermeister zögert keine Sekunde: „Meine Erfahrung sagt mir: Leider nein.“
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