Tief im Osten tobt die Schlacht von Stalingrad. Bing Crosby gelingt mit „White Christmas“ ein Nummer-eins-Hit, der sich über Wochen in den Charts hält. Robert Oppenheimer treibt die erste kontrollierte Kernspaltung voran. Und in den USA regiert mit Franklin D. Roosevelt der einzige amerikanische Präsident, der mehr als zwei Amtszeiten im Weißen Haus herrscht. Die Welt, in die Joe Biden im November 1942 hineingeboren wird, ist eine, die viele Menschen nur noch aus dem Geschichtsbuch oder flimmernden Schwarz-Weiß-Dokus im Spätprogramm kennen. „Er hat Geschichte miterlebt“, sagt seine Frau Jill über Joe Biden. Doch vielen Amerikanern wäre es inzwischen am liebsten, wenn er selbst bald Geschichte wäre.
Nicht erst seit der Sonderermittler des Justizministeriums die in Bidens Garage gelagerten Regierungsdokumente damit entschuldigte, dass es sich beim amtierenden US-Präsidenten eben um einen Senior mit Gedächtnisproblemen handle, rückt die Altersfrage immer stärker in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte. „Ich meine, ich bin ein älterer Mann, und ich weiß, was zum Teufel ich tue“, versucht Biden zu kontern. Der aktuelle Gesundheitscheck, der am Mittwoch veröffentlicht wurde, bescheinigt ihm sogar ganz offiziell, er sei "gesund", "aktiv" und ohne Einschränkung in der Lage, die Aufgaben seines Amtes zu erfüllen. Auf sechs Seiten werden darin nur diverse kleinere Gebrechen aufgelistet, darunter Dinge wie allgemeiner "Verschleiß" und ein "steifer Gang". Doch selbst in seiner eigenen Partei stellen sich einige die Frage, ob der 81-Jährige wirklich die richtige Wahl für einen der härtesten Jobs der Welt ist. Futter liefert der Demokrat seinen Kritikern am laufenden Band: Er verhaspelt sich regelmäßig bei Auftritten, sucht nach Wörtern, vertauscht Zahlen, verwechselt mal Orte, mal Personen. Jedes Stolpern gilt als Beweis.
Den US-Demokraten steht ein schwerer Wahlkampf bevor
Biden könnte das Thema als böse Kampagne des politischen Gegners abtun, der versucht, ihm dem Stempel des senilen Greises aufzudrücken. Wenn da nicht seine ohnehin angeschlagenen Zustimmungswerte wären. Der Präsident kann sich seiner Wiederwahl nämlich alles andere als sicher sein. Die Kriege in der Ukraine und in Israel verschlingen amerikanisches Geld, die Verbraucherpreise in den USA sind hoch, die Krise an der Südgrenze durch illegale Zuwanderung verschärft sich zunehmend, die Gesellschaft ist tief gespalten. Die Demokraten haben schon einfachere Wahlkämpfe erlebt. Eine aktuelle Umfrage des Senders NBC News zeigt zudem: Drei Viertel der Wähler, darunter die Hälfte der Demokraten, geben an, dass sie sich Sorgen um den geistigen und körperlichen Gesundheitszustand von Biden machen. „Zum Vergleich: 61 Prozent der Wähler sind besorgt über die mehrfachen strafrechtlichen Vorwürfe gegen den ehemaligen Präsidenten Donald Trump, und weniger als die Hälfte der Wähler sind besorgt über seine geistige und körperliche Gesundheit“, schreibt NBC.
Tatsächlich ist der gefühlte Altersunterschied zwischen Donald Trump und Biden größer als der wirkliche. Denn auch der mutmaßliche Präsidentschaftskandidat der Republikaner ist mit seinen 77 Jahren alles andere als ein Jungspund. Und auch der Republikaner wirkt bisweilen durcheinander: Einmal machte er den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban zum türkischen Staatsoberhaupt, aus Biden wird des Öfteren mal der frühere US-Präsident Barack Obama. Trump ist allerdings nie um eine Ausrede verlegen – und behauptet einfach, er verwechsele die beiden Demokraten absichtlich. Und wer in der Türkei und in Ungarn herrscht, ist den meisten seiner Anhänger ohnehin gleichgültig.
Kamala Harris fällt als Ersatzkandidatin aus
Biden zog als ältester Präsident aller Zeiten ins Weiße Haus ein. Beim Start in eine zweite Amtszeit wäre er 82, am Ende seiner Präsidentschaft 86. „Schon 2020 war das Alter von Joe Biden ein Thema“, sagt Thomas Jäger, Politikwissenschaftler und USA-Experte an der Universität Köln. „Um es abzubiegen, hat man eine weit jüngere Vizepräsidentin gewählt, die dann in vier Jahren selbst antreten sollte.“ Doch die 59-jährige Kamala Harris habe sich, so Jäger, als politischer Flop erwiesen. Selbst als Ersatzkandidatin für die Präsidentenwahl hätte sie aufgrund mangelnder Sichtbarkeit und Beliebtheitswerte wohl kaum eine Chance. „Die Demokraten brauchen einen Kandidaten, der Trump schlagen kann“, erklärt der Experte. Das habe Biden einmal bewiesen.
Ob er es auch ein zweites Mal schafft, hänge nicht nur am Thema Alter. Doch die Altersdebatte verstärke andere Schwächen in der öffentlichen Wahrnehmung. „Insbesondere auch im Zusammenhang mit anderen Themen, der Einwanderung, dem Krieg in Gaza, sinken die Zustimmungswerte für Biden bei jüngeren und linkeren Wählern“, beobachtet Jäger. Für sich allein sei die Altersdebatte also kein Nachteil – in Kombination mit anderen Themen aber sehr wohl. „Ob es dann am Ende auch ein Schaden an der Wahlurne sein wird, ist offen“, sagt der Experte. „Denn hier erhält Biden sicher wieder Schützenhilfe von Trump. Der mobilisiert nicht nur seine eigenen Wähler, sondern auch die seiner Gegner.“ Die einfache Formel lautet: Der Hass auf Trump ist in den USA mindestens so ausgeprägt wie die Begeisterung für ihn.
Welche Rolle spielt das Alter für die Leistungsfähigkeit?
Einen Plan-B hat die demokratische Partei ohnehin nicht, ein Nachfolger ist nicht in Sicht. Und Biden selbst sieht keine Veranlassung, Zweifel an seiner Person zu schüren. „Wenn eine Partei den Präsidenten stellt, hat dieser das informelle Vorrecht auf Kandidatur – auch wenn es in der Vergangenheit immer wieder Gegenkandidaten gab“, erklärt Jäger. „Biden hätte also früh erklären müssen, nicht mehr anzutreten.“ Das hätte ein Feld an Konkurrenten ermutigt, eine eigene Kandidatur zu prüfen. „Doch man hatte ja im Kopf, dass die Vizepräsidentin antreten sollte“, sagt Jäger. „Also warum diese Konkurrenz auslösen? Als dann sichtbar wurde, Harris kann es nicht und Biden wirkt immer wackliger, war es für die normalen Kandidaturen zu spät.“ Theoretisch sei es noch immer möglich, dass auf dem Parteitag der Demokraten ein anderer Kandidat gekürt werde – doch praktisch ist das mehr als unwahrscheinlich. Ein solcher Schritt würde ein politisches Beben auslösen.
Doch welche Rolle spielt das Alter überhaupt? Wann wird aus alt zu alt? Andreas Kruse ist Gerontologe an der Universität Heidelberg. Er sagt: „Auch bei Menschen, die in ihrer körperlichen Gesundheit und Leistungsfähigkeit eingeschränkt sind, ist vielfach eine hohe geistige Leistungsfähigkeit zu beobachten – so diese im Lebenslauf ausgebildet und kontinuierlich verfeinert wurde.“ Biden ist seit 1972 politisch aktiv, er gilt als einer der erfahrensten Vertreter der amerikanischen Politik, überblickt Entwicklungen und Zusammenhänge über lange Strecken. „Mit Blick auf die geistige Leistungsfähigkeit lässt sich – bei aller Vorsicht vor Verallgemeinerungen – sagen: Die Geschwindigkeit und Umstellungsfähigkeit des Denkens, zudem die Leistungen des Kurzzeitgedächtnisses gehen eher zurück; die Tiefe und der Erfahrungsreichtum des Denkens können hingegen weiter zunehmen“, erklärt der Alterforscher.
Erfahrung kann zurückgehende Leistungsfähigkeit ausgleichen
Es ist die Erfahrung, die eine mögliche geringere Belastbarkeit ausgleichen kann – und das nicht nur im Weißen Haus. „Die reflektierten Erfahrungen und Handlungsstrategien einer Person können ihr im Berufsleben wie auch im persönlichen Alltag dazu dienen, einzelne Verluste – zum Beispiel mit Blick auf die körperliche Belastbarkeit, aber auch mit Blick auf die Geschwindigkeit der Problemlösung – auszugleichen“, sagt Kruse. Auch aus diesem Grund sei die Kooperation von Jung und Alt im Beruf vielfach eine Erfolgsgeschichte: Ältere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen könnten in diese Kooperation einen reichen Erfahrungs- und Wissensfundus einbringen.
Ohnehin sei in der heutigen älteren Generation zumindest im Durchschnitt eine deutlich bessere Gesundheit und eine höhere Mobilität festzustellen als in der älteren Generation der Vergangenheit. Fitness – sowohl in körperlicher als auch in geistiger Dimension – sei vielen Senioren wichtig. „Ältere Menschen verstehen sich zunehmend auch als politisch verantwortlich Handelnde, die die Entwicklung der Gesellschaft mitgestalten wollen und können: und dies auch mit Blick auf die Erhaltung günstiger Lebensbedingungen für die nachfolgenden Generationen, nicht nur für die eigene Generation“, sagt Kruse.
Sanders, Pelosi, McConnell: In Washington dominieren die Alten
Wenn in Washington über das Alter von Politikern diskutiert wird, dann geschieht dies vor dem Hintergrund, dass in der amerikanischen Politik insgesamt die Älteren dominieren. Der demokratische Senator Bernie Sanders ist 82 Jahre alt. Nancy Pelosi, mächtige Frau der Demokraten, ist 83. Mitch McConnell, der Strippenzieher der Republikaner, 82. Den Rekord hielt einst Strom Thurmond. Er schied im Jahr 2003 aus dem Senat aus – im Alter von 100 Jahren. Das Durchschnittsalter im US-Senat liegt bei 65 Jahren. Zum Vergleich: Das Durchschnittsalter aller Abgeordneten im Bundestag beträgt 47,3 Jahre.
„Amerikanische Politiker sind politische Unternehmer“, erklärt US-Experte Jäger. „Sie führen quasi einen kleinen Betrieb. Das gibt ihnen einerseits die Unabhängigkeit, viel länger in Ämtern zu sein und andererseits die Möglichkeit, Netzwerke intensiver zu knüpfen.“ Sie würden von einem großen Stab getragen. Außerdem habe es in den USA eine gewisse Tradition, lange in Ämtern zu sein. „Gewöhnlich werden die Abgeordneten und Senatoren wiedergewählt, weil es stabile Wahlkreise sind“, sagt Jäger. Es sei denn, sie hören von sich aus auf. „Da die US-Bürger ihre Regierung und den Kongress sehr skeptisch betrachten, ist das hohe Alter einiger nicht ganz so ausschlaggebend. Trotzdem schaut die Öffentlichkeit immer wieder ziemlich verstört auf, etwa wenn McConnell, wie zuletzt, mehrfach mitten im Satz nicht weiterweiß“, sagt der Experte. Gewählt werde er aber dennoch.