Mehr als zwei Jahrzehnte ist es her, dass Larry Neff zum letzten Mal die schwindelerregenden 82 Meter bis zur Spitze des Hochofens emporgeklettert ist. Doch der Besuch seines alten Arbeitsplatzes weckt bei ihm noch immer widerstreitende Gefühle. „Es war ein gefährlicher Job. Sieben Mal bin ich dem Tod nur knapp von der Schippe gesprungen“, berichtet der gelernte Gerüstbauer. Der Gang über den 350 Meter langen Besucherpfad entlang der stillgelegten Industrieanlage fällt dem 71-Jährigen schwer: „Es macht mich melancholisch, hier Touristen zu sehen, wo wir früher gearbeitet haben.“
Bethlehem Steel, das gigantische Stahlwerk am Südufer des Lehigh Rivers, hat für 140 Jahre das Schicksal des Ortes Bethlehem im Osten von Pennsylvania bestimmt. Es verpestete die Luft, schaffte gut bezahlte Jobs und ermöglichte Amerikas Aufstieg zur Weltmacht. In den besten Zeiten schufteten hier mehr als 40.000 Menschen: Rund um die Uhr gossen sie das Roheisen für die Golden Gate Bridge, walzten die Träger für das Empire State Building und die Stahlplatten für die amerikanischen Kriegsschiffe im Zweiten Weltkrieg.
1995 erlosch das letzte Feuer in den Hochöfen
„Mein Vater arbeitete hier. Zwei meiner Brüder arbeiteten hier. Es war klar, dass ich hier anfangen würde“, sagt Neff. Mit leiser Wehmut erzählt er von den Doppelschichten, die mit einem Gratis-Lunch aus Truthahn- oder Schinken-Sandwiches belohnt wurden, vom Team-Geist in der Baseballmannschaft und den Motorradausflügen mit den Kumpels am Wochenende. Doch unter dem Konkurrenzdruck der günstigeren Stahlimporte aus Deutschland und Japan begann in den 1980er Jahren der wirtschaftliche Niedergang. „Sie schließen alle Fabriken“, stimmte Billy Joel in „Allentown“ den Abgesang auf die Region an: „In Bethlehem schlagen die Leute die Zeit tot und füllen Formulare aus.“ 1995 erlosch das letzte Feuer in den Hochöfen. Wenig später verlor Neff seinen Job.
Seither rostet das Stahlwerk vor sich hin: Das einstige Symbol der industriellen Stärke der USA ist zum monströsen Mahnmal einer versunkenen Zeit geworden. Rings herum aber hat sich ein lebendiger Kunst- und Kulturbezirk mit Museen, Restaurants und Galerien entwickelt. Das Städtchen Bethlehem, das im 18. Jahrhundert von Missionaren der Herrnhuter Brüdergemeinde aus der Oberlausitz gegründet wurde und 100 Jahre später zur Stahlmetropole mutierte, erfindet sich im 21. Jahrhundert noch einmal radikal neu: Die gezielte Ansiedlung von Tech-Firmen, eine renommierte Hochschule, ein Casino und der Tourismus eröffnen dem 75.000-Einwohner-Ort ganz neue Perspektiven.
Bethlehem ist Amerika unter einem Brennglas
Aufstieg, Absturz, Neuanfang: Bethlehem ist Amerika unter einem Brennglas – auch in politischer Hinsicht. Der umliegende Landkreis Northampton County gilt als Stimmungsindikator bei der Präsidentschaftswahl. 2008 und 2012 votierten seine Bewohner für Barack Obama. 2016 unterstützten sie Donald Trump. Am 2. November 2020, dem Tag vor der letzten Präsidentschaftswahl, stand bei eisigen Temperaturen eine Senatorin namens Kamala Harris auf dem Freizeitgelände nördlich der Stadt: „Der Weg zum Weißen Haus führt über Pennsylvania“, rief sie den Zuhörern zu: „Wenn Ihr zur Wahl geht, werden wir siegen.“ Tatsächlich gewann Joe Biden die Wahl. Harris wurde seine Stellvertreterin.
Vier Jahre später wird hier nun über ihren eigenen Einzug ins Oval Office entschieden.
Von seinem Büro im vierten Stock des Rathauses hat William Reynolds einen eindrucksvollen Blick auf den Lehigh River und das Südviertel der Stadt. „Wir haben eine koloniale und eine industrielle Geschichte. Nun stehen wir an einer Kreuzung der amerikanischen Identität mit sehr unterschiedlichen Strömungen“, beschreibt Bethlehems Bürgermeister die Befindlichkeit seiner Gemeinde. Die einstige Stahlstadt ist heute geprägt von der Lehigh Universität, einem großen Arts Campus, Musikfestivals und den Großstadtflüchtlingen aus New York oder Philadelphia, die die nur anderthalb Autostunden entfernte Region als Rückzugsort entdeckt haben.
Der 42-jährige Demokrat, in dessen Büro zwei Gitarren der Kult-Manufaktur Martin stehen, verkörpert den kulturellen Wandel. Eloquent rasselt der leidenschaftliche Fahrradfahrer, den alteingesessene Konservative im Ort für einen „Marxisten“ halten, die Erfolgsstory von Bethlehem herunter: Die Einnahmen aus der kommunalen Einkommensteuer haben sich in acht Jahren fast verdoppelt, die Arbeitslosenquote liegt unter drei Prozent, die Verschuldung wurde deutlich zurückgefahren.
Von der Politik der Biden-Harris-Regierung hat der Ort stark profitiert: Rund 34 Millionen Dollar aus dem Corona-Hilfspaket von 2021 sind im Stadtsäckel gelandet. Mit zehn Millionen Dollar aus dem Washingtoner Infrastrukturgesetz wird demnächst die holprige Hauptverkehrsstraße im Westbezirk saniert. „Verglichen mit der Zeit vor fünf, zehn oder 20 Jahren geht es uns in jeder Hinsicht besser“, urteilt der Bürgermeister.
Der Stahlmanager sagt: Die Demokraten seien „viel zu weit nach links“ gerückt
Das bestreitet auch Bruce Haines nicht. Trotzdem ist der ehemalige Stahlmanager mit der Politik aus Washington gar nicht einverstanden. Die Demokraten, findet der 81-Jährige, seien „viel zu weit nach links“ gerückt.
Kurz vor der Jahrtausendwende hatte Haines das heruntergekommene historische Hotel in der Innenstadt gekauft. „Meine Frau dachte, ich sei verrückt“, erzählt er. Viele umliegende Geschäftshäuser waren damals verfallen. Heute ist das neungeschossige Backsteingebäude ein Prunkstück der properen Altstadt. Hinter der Bar hängen die Fotos zahlreicher Präsidenten, die hier in den vergangenen hundert Jahren abgestiegen sind. Seit zehn Jahren schreibt der Betrieb schwarze Zahlen.
Gleichwohl macht sich der Hotelier große Sorgen. Die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft empfindet der überzeugte Konservative als bedrückend: „Es ist schwierig, noch ein freundliches Gespräch zu führen.“ Für die Entwicklung macht Haines beide Parteien verantwortlich. Mit Bauchschmerzen hat er 2016 und 2020 für Trump gestimmt. Dem Ex-Manager gefielen Trumps Strafzölle auf Stahlimporte und sein Bekenntnis zur Förderung der heimischen fossilen Energien: „Ich habe seine Agenda, aber nicht seine Beschimpfungen unterstützt“, betont er.
Dass die Biden-Regierung dann Elektroautos subventionierte und Studienschulden erließ, hält der Unternehmer für einen gefährlichen Irrweg, der seinen Prinzipien der Eigenverantwortung und Haushaltsdisziplin widerspricht. Am liebsten hätte er für die traditionelle Republikanerin Nikki Haley gestimmt. Aber angesichts der verbliebenen Alternative erscheint ihm Trump als kleineres Übel: „Ich wünschte, er wäre etwas freundlicher“, sagt er: „Aber ich werde wahrscheinlich wieder für ihn stimmen.“
Ein paar Straßen weiter wirkt Randy Galiotto mit seinem schicken Architekturbüro wie ein Vorzeige-Vertreter der neuen, post-industriellen Renaissance von Bethlehem. Der 44-Jährige ist eingetragener Demokrat. Seine vor neun Jahren gegründete Firma huldigt nur noch in ihrem Namen „Alloy5“, der Anspielung auf eine Metalllegierung, der Stahl-Geschichte der Stadt. Das Geschäft läuft gut. Eines seiner größten Projekte ist die mit Geldern der Biden-Administration finanzierte Sanierung der West Broad Street, auf die er durch seine Glasfassade blickt.
Trotzdem findet auch Galiotto bemerkenswert freundliche Worte für die Vorgängerregierung unter Trump: „Als Privatmann mochte ich seine Corona-Politik überhaupt nicht. Aber als Unternehmer war ich zufrieden mit seiner Wirtschaftspolitik.“ Die Inflation war niedrig, sein Betrieb wuchs. „Als Gesicht für die Zukunft dieses Landes“ könne er sich Trump beim besten Willen nicht vorstellen, setzt Galiotto eilig hinzu. Aber bei dem Gespräch im Frühsommer besorgt ihn wie viele Amerikaner das Alter von Joe Biden. Inzwischen heißt die Kandidatin Kamala Harris. Mit ihrer Botschaft von Optimismus und Zukunft hat sie das Gefühl der Resignation unter den Demokraten erst einmal vertrieben. Doch wird der Schwung bis zum Wahltag anhalten?
Bürgermeister Reynolds jedenfalls scheint elektrisiert. Nach dem Rückzug von Biden hat er gemeinsam mit 250 Amtskollegen aus anderen Städten einen Aufruf zugunsten von Harris unterschrieben. „Die Energie der vergangenen Tage ist unglaublich“, notierte er kurz darauf bei Facebook: „Wir in Bethlehem stehen voll hinter Kamala!“
Der Stahlarbeiter sagt: „In Amerika wimmelt es von dämlichen Menschen“
Viele Details über ihr Programm hat Harris noch nicht verraten. Doch mit ihren Vorstößen zur Senkung der Mietkosten und Subventionierung des Häuserbaus rennt sie bei dem Parteifreund offene Türen ein. Reynolds hat die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum zu seiner Top-Priorität gemacht. Der Zuzug aus den Metropolen hat den mittleren Mietpreis für eine Zwei-Zimmer-Wohnung in Bethlehem seit 2019 von 1300 auf 1900 Dollar hochgetrieben. Die Immobilienpreise haben sich fast verdoppelt. „Es reicht nicht, einen Job zu haben. Die Leute machen sich Sorgen, wo sie sich mit ihrer Familie niederlassen können“, weiß der Kommunalpolitiker: „Das betrifft die Menschen viel unmittelbarer als das Zeug, über das Trump die ganze Zeit redet.“
Auch Trump weiß, dass er Pennsylvania für einen Sieg braucht. Als er im Frühsommer in der Nähe von Bethlehem auftrat, jubelten ihm Tausende zu – darunter auch Ex-Kollegen von Lary Neff, dem einstigen Stahlarbeiter. Der 71-Jährige hat dafür kein Verständnis: „Dem Mann geht es doch nur um sich selbst.“ Den Trump-Fans in seinem Bekanntenkreis hat er bei Facebook die Freundschaft aufgekündigt. „In Amerika wimmelt es von dämlichen Menschen“, schüttelt er den Kopf.
Traditionell unterstützt Neff bei Wahlen die Demokraten, weil die auf Seiten der Gewerkschaften stehen. Aber er zeigt spürbar wenig Lust, ausführlicher über Politik zu reden. Irgendwann bleibt er unvermittelt stehen. „Sehen Sie das weiße Zeug da?“, deutet er auf die aufgeplatzte Isolierung eines bräunlichen Rohres an der Außenseite des Hochofens: „Das ist Asbest. Das steckt in meiner Lunge.“
Neffs Atem geht schwer, als er von der Besucherplattform herunterklettert. „Solange ich pünktlich meine Rente bekomme“, gesteht er, „ist mir der Rest ziemlich egal.“
In einer vierteiligen Serie vor der US-Wahl beleuchtet unser Korrespondent Karl Doemens „Die USA - ein zerrissenes Land“. Er reist dafür in verschiedene Bundesstaaten und schildert die Stimmungslage und die Befindlichkeiten von Amerikanerinnen und Amerikanern. Den Auftakt dazu macht in der ersten Folge die alte Stahlstadt Bethlehem in Pennsylvania. In Teil zwei der Serie geht es um Baton Rouge, die problembeladene Landeshauptstadt von Louisiana.
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